28 August 2006

ZUR GESCHICHTE DES BEGRIFFS

Homer schildert im vierten Gesang der Illias, wie Athene im Auftrag des Zeus vom Olymp herabsteigt, um die Trojaner zu überreden, den Waffenstillstand zu brechen und den ersten Pfeil gegen die Achaier abzuschießen. Sie mischt sich unter das trojanische Heer, sucht und findet den Krieger Pandaros und gewinnt »das Herz des törichten Mannes«. [01] »Auf denn, schnelle den Pfeil und triff Menelaos, den Recken. Aber gelobe Apollon, dem lichtgeborenen Schützen, später ein festliches Opfer (…) zu weihen«. [02] Schon »dröhnte die Sehne und sprang der geschärfte Pfeil (…) dahin, voller Gier, in die feindliche Menge zu fliegen«. [03] Als Agamemnon seinen Bruder bluten sieht, erfassen ihn Schauder und Seufzen. Der verletzte Menelaos jedoch tröstet ihn mit den Worten: »Faß doch Mut und schrecke mir nicht das Volk der Achaier. Nicht an tödlicher Stelle steckt ja der Pfeil, denn es schirmte vorn mich der Gürtel von schillernder Pracht und die Schürze darunter, ferner die eherne Binde, von Schmiedemeistern gefertigt«. [04]

Pandaros hat to kairio, die richtige, nämlich eben tödliche Stelle am Körper des Menelaos nicht getroffen; er hat den kairos verfehlt. Apollon, nicht nur Gott der Künstler und der Dichter, sondern auch derjenige, der durch seine Pfeile, von einem silbernen Bogen abgeschossen, den Männern den Tod bringt, hat das Geschoß nicht ins Ziel gelenkt. Athene allerdings hat ihr Ziel erreicht. Sie hat durch ihre Intervention den Augenblick, in dem sich die Heere gegenüber stehen, in dem die Zeit zu stocken scheint, weil er der Augenblick der Entscheidung über Krieg oder Frieden ist, in ihrem Sinne genutzt.

Der Krieg bricht aus. Sein Klang ist die dröhnende Sehne des Bogens und sein Symbol der geschärfte Pfeil, der in die Lücke der stockenden Zeit springt. Apollon hat sein Instrument, die Leier (lyra) umgedreht. Aus ihr ist ein Bogen (biós) geworden. »Nun ist der Bogen dem Namen nach Leben (bíos), in der Tat aber Tod (thanatos)«. [05]

Die Trojaner hatten mit den Achaiern verhandelt; es ging um die Rückgabe der geraubten Helena an ihren Ehemann, eben an Menelaos. Im entscheidenden Augenblick aber verkehrt sich die Sprache im Zeichen der lyra in die tödliche Tat im Zeichen des Bogens. Nur das Dröhnen der Sehne, die Musik des Todes, erinnert daran, daß es hier einen Zusammenhang gab. Die durch den Pfeil gekennzeichnete Lücke trennt Frieden und Krieg, Leben und Tod, aber sie verbindet sie auch miteinander.

Kairos heißt also: die richtige Stelle, die, die man treffen muß, und meinte ursprünglich »die dreieckige Öffnung (…), die beim Weben entsteht, wenn die Kettfäden gehoben bzw. gesenkt werden, um den Schußfaden oder Einschlag hindurchzulassen«. [06]

Ein Gewebe, das kairoeis ist, ist gut gekettet, fest gewebt. Die beim Weben entstehende Lücke ist räumlich klein und zeitlich begrenzt. So verbindet sich hier die Bedeutung der richtigen Stelle bereits mit dem richtigen Moment. Doch das Gewebe, das so entsteht, ist für die Griechen das Werk, das Wirken der beiden streitenden Brüder Zeus und Poseidon: »Siehe, das Seil des mächtigen Streits und des verheerenden Krieges spannten sie wechselnd aus um beide kämpfenden Völker, unzerreißbar, unlöslich, das viele riß ins Verderben«. [07]

An das von Göttern gewirkte Gewebe des Schicksals bleiben die Menschen gebunden. Der kairos ist also wertneutral: Was für den einen ein vollkommenes Gelingen darstellt, kann für den anderen Tod und Verderben bringen.

Kairos ist über keiro (abschneiden) mit krinein verwandt. Das heißt scheiden, trennen, unterscheiden, aber auch entscheiden, ein Urteil fällen. Das Substantiv dazu heißt krisis. Die krisis ist die Trennung, der Einschnitt, bedeutet aber auch Entscheidung eines Wettkampfes, eines Streites, auch eines Rechtsstreites, und dann heißt krisis Gericht.

Kairos ist also in seiner temporalen Bedeutung eine Krise der Zeit. Im kairos werden die Zeiten unterschieden. Der Pfeil des Pandaros unterscheidet Friedenszeit und Kriegszeit, er entscheidet über Krieg und Frieden und scheidet damit die Zeit (chronos) in zwei Hälften, eine davor und eine danach. Dadurch, daß kairos die Mitte der Zeiten ist, wird er zum Maß (metrion) der Zeit.

Eine Zeit dauert von kairos zu kairos bzw. von krisis zu krisis, nicht etwa, wie z. B. Zenon schon und später Augustinus meinten von nyn zu nyn, jetzt zu jetzt, denn dem Jetzt fehlt eben das Entscheidende, die Unterscheidung, das kriterion.

Jedes Jetzt ist genau gleichwertig zu jedem anderen Jetzt, so wie die Punkte einer Geraden gleichwertig und unendlich an der Zahl sind. Jeder Mensch weiß, daß er nicht unendlich viele Gelegenheiten bekommen wird, etwas zu tun. Und jeder weiß auch, daß diese Gelegenheiten nicht gleich gut sein werden, sondern daß man eben die richtige, den kairos finden muß. Dieser kairos, als Krise des chronos, ist das Maß der Zeit, im Sinne von kriterion und metrion: Er mißt die Zeitspanne, ist das Maß und daher selbst nicht meßbar.

Daher hat der kairos für die Griechen nicht nur praktische, sondern auch ästhetische Bedeutung: Als Maß erzeugt er Symmetrie, Schönheit, zusammenstimmen der Teile, harmonia.

Wie der richtige, der goldene Schnitt in der Proportion nicht meßbar, berechenbar ist, so ist der Schnitt in der Zeit auch unberechenbar. Er ist als Maß der Zeit selbst nicht in der Zeit sondern überzeitlich, so daß sich Platon verwundern konnte: «Dieses wunderbare Wesen (atopos), der Augenblick (eksaiphnês), liegt zwischen der Bewegung und der Ruhe als außer aller Zeit seiend, und in ihm und aus ihm geht das bewegte über zur Ruhe, und das ruhende zur Bewegung«. [08]

Es ist dieses erstaunliche Moment des Anfangs oder Endes, das eben kein Übergang sondern ein Ur-sprung ist, der dem griechischen Denken eigentlich fremd ist: Das Anheben der Stimme zum Sprechen, das plötzliche Abbrechen der Musik, das die folgende Stille noch stiller zu machen scheint, der Umschlag von Sein in Nichtsein oder vom Nichtsein in Sein, in dem der kairos (oder die krisis) die Achse (harmos) ist. A-topos heißt wörtlich ›nicht am Ort‹, ›fehl am Platz‹, ›unanständig‹.

Mit solchem Ursprung, Anfang im Anheben der Stimme beginnt die Geschichte des Volkes Israel: »Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht«. [09]

Der zum Sprechen nötige, kaum hörbare, die Stille unterbrechende Hauch im Anheben der Stimme (a-spiration), das ist der Odem des Lebens, Hauch, Wind, Klang und Geist pneuma, spiritus.

Im kairos des Anfangs wird er in die Welt hinein gesprochen und dem Menschen eingehaucht. Auf den kairos der Schöpfung antwortet die freie Tat des Menschen: Der Fall, die krisis der Vertreibung. Dies ist nach biblischem Verständis der Beginn der Lebenszeit (aion) der Welt, dieser Welt, unserer Zeit, der Geschichte.

Es ist der Beginn von Werden und Vergehen, der Zeit (chronos) als Kronos, der seine Kinder auffrißt. Seitdem ist dieser Wind in der Geschichte, »ein Sturm weht vom Paradiese her«, der sich in den Flügeln des Engels der Geschichte verfangen hat, »und der so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann«. [10]

Benjamins Geschichtsengel ist eine von Paul Klees »Angelus Novus« und Albrecht Dürers »Melencolia I« ausgehende Abwandlung der Allegorie der Zeit. Die Zeit hat Flügel, verfliegt und hinter (unter) ihr häufen sich die Trümmer der vergänglichen Dinge. Die geflügelte Zeit wird zur wissenden Melancholie: Sie blickt zurück, sie kann den Blick von der Trümmerlandschaft nicht abwenden. Sie bleibt stehen, aber der Wind treibt sie weiter.

Die Melancholie ist die Krankheit der Dichter, der Künstler und der Philosophen: »Ach! Was ist alles diß / was wir vor köstlich achten / als schlechte Nichtigkeit / als Schatten / Staub und Wind; Als eine Wisen-Blum / die man nicht wider findt«. [11]

Der Dichter benutzt die biblischen Bilder, die Metaphern des alten Testaments, der Propheten Jesaja und des Predigers Kohelet: »Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des Herrn Odem bläst darein. Ja Gras ist das Volk! Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort Gottes bleibt ewiglich«. [12]

Der Odem, der Hauch des Lebens, Seele und Geist, ist hier zum Sturm der Zeit geworden. Die Septuaginta, die griechische Übersetzung des hebräischen Textes, sagt an beiden Stellen: pneuma: Wind, Hauch, Geist. »Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger«, »ta panta mataiotês«, es ist alles vergänglich. »Und ich richtete mein Herz darauf, daß ich lernte Weisheit und erkennte Tollheit und Torheit. Ich ward aber gewahr, daß auch dies ein Haschen nach Wind (pneuma) ist«. [13]

Der Prediger Kohelet ist einer der großen Melancholiker der Weltliteratur, aber er weiß, was das Fallen der Zeit mißt, woran der Wind sich bricht, was den gefräßigen Kronos innehalten läßt. Nicht auf- oder anhalten kann man die Zeit, aber zum Stocken bringen: »Alles hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde (kairos): geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; (…) weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit«. [14]

Alles, was man tun kann, hat seinen kairos, seinen richtigen Moment. Dieser Moment ist ein Einschnitt im Fließen des chronos. Er teilt die Zeit, rhythmisiert sie und macht sie so zur Harmonie: Zusammenstimmung des Gegenstrebigen. [15]

Den kairos aber bestimmen, herbeiführen oder berechnen zu wollen ist »Haschen nach Wind« (proairesis pneumatos): Niemand weiß die Stunde der Geburt oder des Todes. Nur das, daß sie kommt, kann man wissen. Man weiß und muß wissen, daß man sterblich ist.

Hier zeigt sich das jüdisch-christliche Verständnis von Geschichte: Zeit heißt Frist, Zeit ist immer nur von kairos zu kairos und vom Anfang auf das Ende (eschaton) hin. Genauer: Geschichte kann sich immer nur verstehen vom Ende her.

Das meinte der Psalmist, wenn er sagte, Gott sei «von Ewigkeit zu Ewigkeit« [16], von aion zu aion nämlich, von einem Weltalter zum anderen, vom kairos der Schöpfung zur krisis, dem Gericht, von diesem aion zum kommenden aion und noch darüber hinaus.

Das gesamte neue Testament erzählt eigentlich nur vom kairos der Inkarnation, vom bereits gekommenen Messias und der jetzt bevorstehenden Krise des Gerichts, der Apokalypse. »Die Zeit ist erfüllt kairos, und das Reich Gottes ist herbeigekommen«. [17]

Daher die Rede vom kairos als Fülle der Zeit bzw. vom Einbruch der Ewigkeit in die Zeit, das heißt Menschwerdung Gottes, Inkarnation und Erlösung.

Dieses biblische Verständnis von Geschichte (= unserer, dieser Zeit) ist zwar in seiner Radikalität, die in der unmittelbaren Erwartung des Endgerichts und dem Anbruch des neuen aion liegt, im Laufe der Jahrhunderte sehr abgeschwächt worden, aber es ist doch für unser europäisches Denken immer noch bestimmend geblieben.

An dessen Beginn konnte Augustinus sagen: »Denn was Zeitspanne ist, messen wir nur von einem Anfang bis zu einem Ende« [18] und nur vorsichtig vermuten, daß dann, weil sonst nichts zu messen da sei, die Zeit in der Ausdehnung des Geistes (distentionem animi) bestehen müsse. [19]

Geist oder Seele, lateinisch animus, kommt vom griechischen anemos und heißt Lufthauch, Wind, Sturm.

Bei Hegel kann man sowohl den kairos im Sinne des plötzlichen Umschlagens als »Moment« der Geschichte, in der Aufhebung nämlich, wiederfinden, als auch die Beschreibung der Zeit als »Sein, das, indem es ist, nicht ist, und indem es nicht ist, ist: Das angeschaute Werden« [20], sowie den Gedanken der zum Ende kommenden Geschichte.

Heidegger dagegen greift Augustinus wieder auf, um zu behaupten, das Dasein, als das »Seiende, das wir je selbst sind« [21] sei eigentlich »Sein zum Tode« als »Vorlaufen in ein Seinkönnen des Seienden, dessen Seinsart das Vorlaufen selbst ist«. [22]

Von ihm ungesehen blieb gleichsam, daß in der Ausdehnung des Geistes in die Zukunft als Möglichkeit des Seinkönnens, die Heidegger »Vorlaufen« nennt, der Geist nicht nur der jemeinige ist, sondern der Atem der Geschichte selbst.

Die Entscheidung des Todes wird fallen, aber nicht als meine eigene. Das Ich kann die Last der Eigentlichkeit nur bedingt ertragen. Deshalb ist Heideggers Philosophie als Philosophie der Zeit auch eine der Angst, und nicht des Maßes – während Benjamins Geschichtsengel ein Engel der misslichen Melancholie ist.

Der kairos aber hat in den letzten 150 Jahren Geistes(!)geschichte eine rasante Karriere gemacht, um dann fast völlig zu verschwinden.

Vielleicht war der letzte große Denker des kairos der Jurist Carl Schmitt, der allerdings versuchte, den Einschnitt selbst noch einmal zu scheiden und ihn der Politik zu unterwerfen: Freund und Feind mit ihm zu unterscheiden. Er unterscheidet occasio (die günstige Gelegenheit, gute Umstände) von decisio (die Entscheidung, der Abschluß, dazu das Verb decidere: abschneiden, abhauen).

Seinen Feinden wirft er vor, sie seien »Occasionalisten«, Romantiker, diskutierendes, träges Gesindel. Er selbst stellt sich in die Tradition der »Dezisionisten«: Pascal, Kierkegaard, Donoso Cortés. Ihm entging allderdings, daß Gelegenheit und Entscheidung zwei Seiten derselben Medaille sind: kairos und krisis.

Seit der letzten großen Krise, dem 2. Weltkrieg, der wider Erwarten keine Apokalypse war, obwohl zeitweise der Antichrist entfesselt schien, ist die Rede vom kairos fast völlig verstummt. Kein Schnitt mehr gliedert die Zeit. Kein Maß mehr, um Symmetrie in den gleichgültigen Ablauf zu bringen. Nur selten noch Hoch-Zeiten: Feste und Spiele, die dann auch kairoi, Aus-zeiten sind. Stattdessen chronos phagos, Kronos der Fresser, ungehemmter Zeitverbrauch, Konsum, Hektik und postmoderne Langeweile.

Beruhigend nur, daß die Zeit »bloß nichts zu nichts bringen« kann, sie kann »nur das Sterbliche zum Tode verurteilen«. [23]

Und sie frißt nicht nur ihre Kinder, sie zehrt an sich selbst, sie ist im Grunde Autophagus: Nichts »als Schatten / Staub und Wind; als eine Wisen-Blum / die man nicht wider findt«.



Anmerkungen:
[01] Homer, Illias IV, übers. v. Hans Rupé, München 1961
[02] ebd., IV, 100ff
[03] ebd., IV, 125f
[04] ebd., IV, 184ff
[05] Heraklit, Fragment B 48 (Diels/Kranz), übers. v. Bruno Snell, München/Zürich 8/1983
[06] Manfred Kerkhoff, Zum antiken Begriff des Kairos, in: Zeitschr. f. philos. Forsch., 27 (1973), S. 259
[07] Homer, Illias XIII, 358ff
[08] Platon, Parmenides 156 d-e, übers. von Friedrich Schleiermacher
[09] 1. Mose 1,3
[10] Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. II·2, Frankfurt am Main 1977, S. 432
[11] Andreas Gryphius, Gedichte. Eine Auswahl, hg. v. Adalbert Elschenbroich, Stuttgart 1968, S. 5
[12] Jes. 40, 6-8
[13] Pred.1,17
[14] Pred. 3, 1-4
[15] Vgl. Heraklit, Fragment B 51
[16] Ps. 90,2
[17] Mk. 1, 15
[18] Augustinus, Bekenntnisse XI, übers. v. Joseph Bernhart, Frankfurt a. M. 1987
[19] ebd., 26, 33
[20] G.W.F. Hegel, Encyclopädie der philos. Wissenschaften § 258 (Theorie-Werkausgabe Bd. 9, S. 48)
[21] Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 17/1993, S. 7
[22] ebd., S. 262
[23] Massimo Cacciari, Zeit ohne Kronos. Essays, Klagenfurt 1986, S. 16