28 August 2006

1934

PAUL TILLICH

Die Theologie des Kairos
und die gegenwärtige geistige Lage


Offener Brief an Emanuel Hirsch, Göttingen,
von Paul Tillich, z. Zt. New York



Der folgende Brief war ursprünglich als Privatbrief entworfen. Nachdem er sich zu einem umfassenden sachlichen Angriff auf das Buch von Hirsch [Emanuel Hirsch, Die gegenwärtige gesitige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Bessing, Göttingen, 1933] ausgewachsen hatte, und nachdem sich herausgestellt hatte, daß der Gebrauch der Kairos-Lehre durch Hirsch zu schwerer Mißdeutung ihres Sinnes führen muß, fragte ich den Herausgeber dieser Zeitschrift, ob er mein Schreiben als Offenen Brief veröffentlichen könnte. Seine Zustimmung, für die ich ihm dankbar bin, ermöglicht es mir, eine Interpretation der Kairos-Lehre im Hinblick auf die gegenwärtige theologische und religiöse Lage vor der theologischen Öffentlichkeit zu geben. Doch konnte ich mich nicht entschließen, den persönlichen Charakter, dessen Ausdruck die Briefform sein soll, zu beseitigen. Es gibt Fälle, in denen Persönliches und Sachliches so miteinander verbunden sind, daß gerade um der Sache willen das Persönliche zu Worte kommen muß. Es ist schwer, in solchen Fällen den Schein des Nur-Persönlichen zu vermeiden, zumal wenn man die Leidenschaft nicht verhehlt, die nach Kierkegaard ein Signum der Wahrheit ist. Beabsichtigt ist dennoch etwas rein Sachliches: das Bild der gegenwärtigen geistigen Lage und ihrer Voraussetzungen richtiger zu zeichnen, als Hirsch es getan hat, und auf diesem Wege zugleich einen Beitrag zur theologischen und philosophischen Selbstbestimmung in dieser Lage zu geben. So wenig es sich für mich um politische Kritik handelt und handeln kann, so unvermeidlich war es, auf die theologische und philosophische Interpretation des gegenwärtigen politischen Geschehens einzugehen, die das Buch von Hirsch füllt. Es scheint mir – gerade vom Standpunkt des gegenwärtigen Deutschland aus – wichtig zu sein, daß nicht nur diese eine Interpretation, sondern auch andere und – wie ich meine – richtigere zu Worte kommen.


New York, am 1. Oktober 1934.
Union Theological Seminary.




Lieber Emanuel!

Die spannungsreiche Einheit unserer persönlichen Freundschaft und sachlichen Gegnerschaft ist mir nie stärker zum Bewußtsein gekommen als beim Lesen Deines neuen Buches: »Die gegenwärtige geistige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Besinnung«. Ich stimme dem Urteil Karl Barths über seine Bedeutung zu und glaube darüber hinaus fühlen zu können, um was es Dir geht. Zugleich weiß ich mich verpflichtet, ihm mit der sachlichen Schärfe entgegenzutreten, die unsere wissenschaftlichen Gespräche immer gehabt haben und die in diesem Augenblick, wo das Ganze unserer geistigen Existenz in Frage steht, nötiger ist denn je. Während die Briefform den Willen ausdrückt, den Gesprächscharakter unserer Auseinandersetzung aufrecht zu erhalten, bedeutet die Öffentlichkeit, zu der mich die Öffentlichkeit Deines Buches zwingt, daß wir nicht ein Privatgespräch zu führen, sondern um die widerstreitenden Prinzipien, die seit Jahren mit unseren Namen verbunden sind, zu ringen haben. In diesem doppelten Sinne bitte ich Dich, diesen Brief aufzufassen, der mir schwerer geworden ist als je ein anderer.

Dein letztes Buch hat ein großes Erstaunen bei mir und anderen ausgelöst. (Vgl. den Bericht von Pfarrer Aé in der »Jungen Kirche«, sowie verschiedene Briefe, die ich erhalten habe.) Das Erstaunen gründet sich auf die Tatsache, daß Du, um die neue Wendung der deutschen Geschichte theologisch zu deuten, alle entscheidenden Begriffe des vierzehn Jahre lang von Dir bekämpften und nun äußerlich überwundenen Gegners gebrauchst. Nun könnte mich das freuen als ein Beweis für die geistige Kraft unserer religiös-sozialistischen Gedankenarbeit, von der auch der siegreiche Gegner leben muß. Aber diese Freude ist durch ein Doppeltes getrübt: einmal durch die Tatsache, daß Du Deine Übereinstimmung mit den religiös-sozialistischen Kategorien geflissentlich verhüllst, und zweitens durch die Tatsache, daß Deine Verwendung dieser Kategorien sie um ihren tiefsten Sinn bringst. Aus diesen beiden Gründen schreibe ich diesen Brief. So gern ich persönlich für lange Zeit geschwiegen hätte, der Gebrauch und Mißbrauch der mit meinem Namen verknüpften Kairos-Lehre durch Dein Buch zwingt mich zum Reden.

Das, was ich zuerst sagen möchte, hält sich im Rahmen dieser persönlichen Einleitung. Es ist mir das Schwerste, aber es muß gesagt werden und muß klar und offen gesagt werden. Denn es betrifft das entscheidende Verhältnis der wissenschaftlichen Wahrhaftigkeit zu den Erfordernissen des politischen Kampfes. Mir scheint in einer Zeit, in der da Politische – bei uns allen – eine nie geahnte, alles überragende Bedeutung bekommen hat, in der nach Lage der Welt wenig Aussicht besteht daß es in absehbarer Zeit diese Bedeutung verlieren wird, in der nicht zufällig »der Feind« zu der existentiellen Kategorie geschichtlichen Denkens erhoben ist, in solcher Zeit scheint es mir nötig zu sein, daß man sich über das Verhältnis des wissenschaftlichen zum politische Ethos zum mindesten für sein eigenes Verhalten klar wird. Nun muß ich gestehen, daß im – und nicht ich allein – das Gefühl habe, daß Du Dir nicht darüber klargeworden bist, als Du Dein Buch schriebst, oder wenn, dann in einer Richtung, die ich tief bedauern würde. Ich habe schwer unter Deinem Buch gelitten, nicht um der sachlichen Inhalte willen, die mich zu recht kräftigem Angriff begeistert haben, sondern wegen Deiner Haltung, die ich unserer Arbeit gegenüber mit geistiger Wahrhaftigkeit nicht vereinigen kann. Als eine Verletzung derselben empfinde ich es, wenn Deine Darstellung nichts davon merken läßt, daß die Arbeit, die von uns geleistet ist, die methodische Grundlage für die vor Dir geforderte neue Haltung in Theologie und Philosophie geschaffen hat. Du behandelst sie mit Respekt und läßt wenigstens ahnen, daß Du ihr allerhand verdankst. Gleichzeitig aber erfindest Du für sie den Namen »Religiöser Marxismus«, der nach dem propagandistischen Gebrauch des Wortes Marxismus in den letzten zehn Jahren für Deine Leser lediglich diffamierenden Charakter ohne sachlichen Inhalt haben muß. Doch nicht auf diese Erwähnung kommt es an, sondern darauf, daß Deine Darstellung anders hätte aussehen müssen, wenn Du Dich offen zu der Arbeit derer bekannt hättest, deren Gedanken in jedem Deiner Sätze mitklingen. Dann hättest Du nicht verheimlichen können, daß das Gefühl der Wende, der Krise des bürgerlichen Zeitalters und des neuen Aufbruchs, der Hoffnung auf geistige, gesellschaftliche und politische Neuschöpfung Deutschlands und dadurch Europas, beim Entstehen unserer Bewegung genau so lebendig war wie jetzt, daß die Kritik der autonomen Jahrhunderte, die Erwartung einer theonomen Existenz der christlichen Völker nach Überwindung der Klassendämonie, daß die Spannung von Ewigkeit und Zeit und die daraus folgende Lehre vom erfüllten Augenblick, daß das existentialgeschichtliche Denken und seine Konsequenzen für Philosophie und Theologie von denen zuerst erlebt und gefunden sind, die sich der deutschen Arbeiterbewegung anschlossen, weil sie glaubten, daß hier der Ansatzpunkt für jede wirkliche Wandlung liegen müßte. Du glaubst, daß die konservativen und mittelständisch-revolutionären Kräfte ein besserer Ansatz sind, ja im Prinzip die Erfüllung gebracht haben. Aber kann diese Verschiedenheit des politisch-soziologischen Urteils ein Grund sein, die Gemeinsamkeit in jener Grundhaltung und in allen aus ihr fließenden Begriffen zu verleugnen? Du hättest unsere Anwendung dieser Begriffe kritisieren, die Ursachen unseres Mangels an praktischer Durchschlagskraft aufweisen, Dich auf diese Weise distanzieren können, aber nichts von alledem findet sich in Deinem Buche, das doch die gegenwärtige geistige Lage aus der vergangenen verstehen will.

Und das ist nun die Frage, die mich bewegt und bedrückt: Ist es eine unbewußte Verdrängung, die Dich hinderte, die Wahrheit über Dein Verhältnis zu uns zu erkennen; ist es halbbewußte Sorge vor den Folgen, die Dich hinderte, sie auszusprechen? Oder (dann hätte Deine Haltung prinzipielle Bedeutung): ist es die Überordnung des politischen Wertes über den der Wahrhaftigkeit (nicht nur in Diplomatie und Propaganda, sondern auch) in der historischen und theologischen Arbeit? Wäre es so, so hätten wir zum mindesten ein Recht, zu verlangen, daß diese Umwertung der Werte in dem Buch selbst eine offene Darlegung und Begründung gefunden hätte. Der lutherischen Sozialethik ist Macchiavellismus ja auch schon früher nachgesagt worden. Du hättest diese angebliche oder wirkliche Tradition erneuern und ihre Anwendung von dem »principe« auf den »philosophus« übertragen können. Dann wäre eine klare Lage geschaffen gewesen. Jetzt stehe ich vor einer Wand, und der Schmerz, durch sie nicht mehr zu Dir durchstoßen zu können, hat mir diese Worte abgezwungen.

Doch nun genug davon und zur Sache selbst! Sie stellt mir zwei Aufgaben, die ineinander verwoben sind. Die eine ist, zu zeigen, wie Du die tragenden Begriffe des religiös-sozialistischen Denkens, insbesondere der Kairos-Lehre übernommen und zugleich durch Ausscheidung ihres prophetisch-eschatologischen Elements umgebogen oder entleert hast. Und zweitens sachliche Kritik an Deiner theologischen Methode zu geben durch Erörterung Deiner Grundhaltung sowie zahlreicher Einzellösungen. Eins ist nicht möglich ohne das andere. Doch soll die erste Aufgabe im ersten, die zweite im zweiten Teil überwiegen.




I.

1. Es ist überraschend, in welchem Maße Du Begriffe und Gedanken des Religiösen Sozialismus im Allgemeinen und der Kairos-Lehre im Besonderen übernimmst und Deine Gegenwartsdarstellung methodisch darauf gründest. Ich will den Nachweis dafür so eingehend wie möglich führen – vielleicht, daß es Dich dann selbst überrascht. Dabei kommt es nicht darauf an, ob dieser oder jener Gedanke sich gleichzeitig und unabhängig bei Dir und uns entwickelt hat, sondern darauf, daß Du die methodische Grundhaltung unseres Denkens angenommen hast. Und selbst wenn Du auch sie gleichzeitig und unabhängig von uns geschaffen hättest, so würde die übereinstimmung nur noch erstaunlicher sein und hätte Dich erst recht zu einer ganz anderen Darstellung zwingen müssen.

Als ich Dir vor etwa neun Jahren meine »Religiöse Lage der Gegenwart« [Gesammelte Werke, Bd. X.] schickte, da fragtest Du etwas ironisch, warum ich mich in die Rolle des Zuschauers begeben hätte. Ich frage nicht so, nachdem Du mir Deine »Gegenwärtige geistige Lage« hast schicken lassen. Denn ich glaube zu wissen und sagen zu müssen, daß ohne eine die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfassende Selbstorientierung die Forderung des »Denkens aus der Stunde« nicht erfüllbar ist. Schon der Titel Deines Buches ist ein Zeichen, daß Du dem religiös-sozialistischen Einsatz in Theologie und Philosophie sehr viel näher gekommen bist, als Du es früher warst. Aber nicht nur formal gilt das; sondern auch inhaltlich; gibst Du doch den gleichen Rhythmus wieder, in dem wir seit 1919 die abendländische Entwicklung sehen und der der Leitstern aller unserer konkreten Geschichtsdeutung gewesen ist: Der großartige Versuch der autonomen Vernunft, nach Zerstörung der religiös getragenen Einheitskultur des Mittelalters von sich aus den geistigen und politischen Neubau einer Gesellsmaft zu leisten, die Katastrophe des »weltgestaltenden Willens« der ratio im Weltkrieg mit seinen Folgen; die Gegenwart als entscheidende Krisenperiode, das Ringen um eine neue tragende Substanz. Auch Einzelmomente, die wir hervorgehoben haben, kehren bei Dir wieder: Die Bedeutung von Reformation und Gegenreformation für die Entstehung des autonomen Denkens, die Dreiheit von Wissenschaft, Technik, Wirtschaft als Symbole des Zeitalters, rationale Naturbeherrschung und rationaler Gesellschaftsaufbau, der Kampf um die Menschenrechte, das Versagen des Idealismus, die überragende Bedeutung von Karl Marx und Friedrich Nietzsche für das 19. Jahrhundert – also die religiös-sozialistische Schau des geschichtlichen Ablaufs bis zur Gegenwartskrise im Ganzen und im Einzelnen.

Die gleiche Übereinstimmung zeigt sich bei den tragenden Begriffen. Ich gebe nur kurze Hinweise.

Für die Kennzeichnung gewisser schöpferisch-zerstörerischer Kräfte verwendet der Religiöse Sozialismus den Begriff des Dämonischen in einer religions-philosophisch genau definierten Weise. Du übernimmst diesen Zentralbegriff und deutest das deutsche Geschehen als Überwindung der im Krisenzeitalter zusammengeballten Dämonien. (Womit Du übrigens mit Daquée, Leese und vielen anderen unter das Urteil Ernst Kriecks in »Volk im Werden« fällst, der von dem »Hereinfall auf Tillichs schwindelhafte Dämonologie« spricht und den Stoßseufzer druckt: »Auf was fielen deutsche Gelehrte nicht herein«.)

Bei der Einführung des Begriffs der Grenze hast Du selbst das Gefühl, seine Übernahme aus älteren Lehren rechtfertigen zu müssen, wenn Du es aber so tust, daß Du behauptest, für Dich wäre »heilige Mitte«, was früher unendlich hinausschiebbare Beschränkung gewesen wäre, so trifft das jedenfalls für die Lehre von der Grenzsituation, wie sie von Jaspers und mir entwickelt ist, nicht nur zu, sondern dreht den Tatbestand geradezu um: Und das muß Dir selbst bewußt gewesen sein, als Du von der bürgerlichen Haltung schriebst: »Sie sieht nur die eine Seite, das Ja; sie kennt ihn (Gott) nur als Grund, nicht als Grenze, sie bleibt in bürgerlicher Religiosität. Das die Welt vor Gott in Frage stellende unbedingte Gericht ist ihr ein … anstößiger Gedanke.« Diese Sätze beweisen, daß Deine »heilige Grenze« eine Übersetzung des »Abgrundes« in der Formel »Grund und Abgrund« ist, daß also Deine »Grenze« als »heilige Mitte, die zugleich tragend und unbedingt richtend ist«, genau das wiedergibt, was wir in schwerem Kampf dem bürgerlichen Neukantianismus abgerungen hatten. Vollends deutlich wird das durch die hier plötzlich und einmalig auftretende soziologische Bezugnahme auf die bürgerlidte Gesellsdtaft, die Du in vollem Einklang mit der religiös-sozialistischen Kritik als Träger einer Religiosität ohne Abgrunderlebnis und Grenzsituation kennzeichnest.

Entscheidend ist Deine Zustimmung zur Kairos-Lehre, im Prinzip und in den Konsequenzen. Warum Du das griechische Wort vermeidest, ist sachlich nicht zu verstehen, nachdem Du den Stapelschen »Nomos« aufgenommen und die Grenze mit »Horos« übersetzt hast. Du sprichst statt dessen von der »gegenwärtigen Stunde«, von dem »Aufbruch«, den sie bedeutet, von der »besonderen Verantwortung, die sie für Theologie und Philosophie enthält«, von dem »religiösen Sinn unseres geschichtlichen Augenblicks«, von dem »Bekenntnis des Heiligen in der Lage des Augenblicks«, von »Erschlossenheit für die Forderung der Geschichtsstunde«, von der Forderung, das »durch die Stunde vom Herrn der Geschichte Aufgegebene« zu erkennen usw.

Aus der Rezeption der Kairos-Idee ergeben sich die grundlegenden Übereinstimmungen in Philosophie und Theologie. Du bemühst Dich um eine existentielle Geschichtsphilosophie, um das, was ich in meiner letzten deutschen Vorlesung als »Existentialgeschichtliche Methode« zu entwickeln versucht habe. Ein Satz wie der: »Die Existenz des Philosophierenden wird Maß der geschichtlichen Existentialität der Philosophie« ist die fast wörtliche Wiedergabe eines Grundgedankens aus »Gläubiger Realismus«. [Gesammelte Werke, Bd. VI.] Und der Satz: »Philosophie muß sich hüten, den Anspruch strenger Wissenschaft aus Geschichtsgelöstheit zu ihrem eigenen zu machen", ist eine Wiedergabe des Gedankens, daß der philosophische Logos die Askese gegenüber dem Kairos aufgeben müsse. »Selbstaufhellung der neuen deutschen Wirklichkeit nach ihrer existentiellen Tiefe« war das Bemühen des Religiösen Sozialismus von seinem ersten bis zu seinem letzten Wort. Keine unserer Schriften hatte im Grunde einen anderen Inhalt. Wir haben, wie Du es forderst, versucht, »in unserer letzten großen Entscheidungsfrage die Stunde in uns mächtig werden zu lassen, um unsere Aufgabe nicht zu verfehlen«.

Aber weißt Du auch, was Du mit dieser Forderung existentialgeschichtlichen Denkens tust? Erstens negativ: Du brichst entschlossen mit der Gogartschen Form der Dialektik und kannst nur in Selbsttäuschung eine enge Verwandtschaft zwischen Dir und ihm statuieren. Gogarten hat in seinem Buch »Ich glaube an den dreieinigen Gott« die Kairos-Philosophie als »Pest der Geschichtsphilosophie« angegriffen. Wird er Deine Abart derselben wegen Eures politischen Bündnisses mit mehr Gnade aufnehmen? Ich zweifle! Statt dessen hast Du Dich mit der Bejahung des existential geschichtlichen Denkens zu jemand gestellt, zu dem Du Dich von allen Toten und Lebenden am wenigsten gern stellst, zu dem jungen Marx. Während das Verständnis von Existenz bei Kierkegaard, auf den Du Dich berufst, so wie bei Heidegger, den Du ablehnst, und bei Jaspers, den Du nicht erwähnst, von der Existenz des Einzelnen her gewonnen ist, hat der junge Marx in Formeln, die den Kierkegaardschen oft zum Verwechseln ähnlich sehen, gegenüber Hegel und mehr noch gegenüber Feuerbach ein existentialgeschichtliches Denken gefordert. Der Religiöse Sozialismus, der in dieser Beziehung wirklich religiöser Marxismus war, hat als einziger diese Forderung aufgenommen und nach seinen Kräften verwirklicht. Von ihr und damit vom jungen Marx bist Du abhängig, wenn Du existentialgeschichtliches Denken verlangst. Und Du und wir und Marx und jeder, der geschichtlich-existentiell denkt, ist abhängig von der altjüdischen Prophetie, deren Haltung im existentialgeschichtlichen Denken in die Philosophie eindringt. An diesem Punkt stehst Du offenkundig in der Tradition (prophetisches) Judentum und (religiöser) Marxismus.

Folgenreich ist die Kairos-Lehre bei Dir wie bei uns vor allem in der Auffassung des Wahrheitsgedankens. Der entscheidende Satz bei dir lautet: »Vernunft ist der sich als Logos geistig verstehende und entfaltende Nomos bestimmten menschlich-geschichtlichen Lebens selbst, und Wissenschaft ist nichts als Zucht und Rechenschaft dieses wirklichkeitsbestimmten Logos vor sich selbst über die ihn bestimmende Wirklichkeit.« Ohne hier schon auf Deine Formulierungen einzugehen, möchte ich Dich erinnern, daß das Problem, das Du mit ihnen stellst, das Thema aller Arbeiten war, die sich um die philosophische Begründung der Kairos-Lehre bemühten, daß die Lösungen weit über unseren Kreis hinausgewirkt haben, daß wir seit jener Zeit von einer »dynamischen Wahrheit« gesprochen und eine »dynamische Methode« zu entwickeln versucht haben? Muß ich Dich daran erinnern? Und wenn nicht, warum erinnerst Du nicht die daran, die es heute nötig hätten, an den ursprünglichen Sinn dieser Lehre erinnert zu werden, wenn sie im Namen der dynamischen Wahrheit die »Wahrheit« der »Dynamik« opfern.

Alle weiteren Konsequenzen, die Du mit Recht aus dem dynamischen Wahrheitsgedanken ableitest, sind in ausführlichen Darlegungen vom Religiösen Sozialismus gezogen worden: Für den Wagnischarakter des Erkennens verweise ich auf die Ausführungen über Erkenntnis als Schicksal und Wagnis in »Kairos und Logos«. [Gesammelte Werke, Bd. IV.] Für die Forderung, daß Erkennen, um frei schwebender Willkür zu entgehen, aus der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft geschehen müsse, zeugte der Religiöse Sozialismus durch seine Existenz. Er suchte innerhalb des Volkes den Ort der größten »Geschichtsmächtigkeit« zu finden, und aus der Gemeinschaft mit dieser Gruppe heraus die geschichtliche Existenz des Volkes und des Kulturkreises zu erhellen.

Endlich haben wir die Konsequenzen für Wissenschaftsbetrieb und Universität nicht weniger radikal aus unserem Wahrheistgedanken gezogen, als Du es tust. Unsere Kämpfe mit der Reaktion in Fakultäten und Senaten gingen durchweg um diesen Punkt. Ein Aufsatz über die Universitätsreform hat den ganzen älteren Humanismus gegen uns aufgebracht. Im Juli 1932, am Tage, bevor die politische Reaktion uns jede Möglichkeit der Verwirklichung raubte, verteidigten wir in HeideIberg gegenüber dem älteren Humanismus den versuchsweisen Aufbau einer Universität, in der die neue existentielle Haltung maßgebend sein und der Kampf gegen die von uns aufgewiesene Verderbnis der Universität aufgenommen werden sollte.[Siehe »Fachhochschulen und Universität«, Gesammelte Werke, Bd. XIII.]

Deine Geschichtskonstruktion ist bestimmt durch den Gegensatz autonomer und theonomer Zeitalter, also die Grundvoraussetzung des Religiösen Sozialismus. Die Spätantike kennzeichnest Du als »Gottentfremdung der Spätkultur«, die Gott nur als das ungeschichtliche Jenseits des Seins kennt, das bürgerliche Zeitalter als Selbstmächtigkeit von Vernunft und Freiheit, das vorchristliche Heidentum als ungebrochene Theonomie, nämlich als einfache Einheit des geschichtlichen und des heiligen Horos; und beides, die heidnische Theonomie und die Autonomie, nennst Du dämonisch. Demgegenüber charakterisierst Du die wahre Theonomie so, daß Du sagst: »Der geschichtliche Horos ist zugleich der heilige Horos, und doch ist der heilige Horos wiederum auch mit der Macht des Ewigen der den geschichtlichen als vergänglich verzehrende.« Wir sprachen von Theonomie als »Durchbruch von tragendem und verzehrendem Grund und Abgrund«, einbrechend in die Formen des geschichtlichen Lebens. Selbst die Heteronomie kennst Du, wenn Du von der »Zerknickung der Gewissen durch widernatürlichen Zwang sprichst« und Dich zu zeigen bemüht bist, daß so etwas in der neuen Theonomie nicht beabsichtigt sei.

Deine Beschreibung der protestantischen Theologie, ihrer Entwicklung und ihrer Aufgabe enthält fast alle entscheidenden Gedanken, um deretwillen die Theologie des Religiösen Sozialismus von den kirchlichen Theologen verketzert wurde. Die »evangelische Wendung wider sich selbst« und die damit verbundene Ungesichertheit als Grundhaltung evangelisch-protestantischer Theologie, die so überraschende Zustimmung zu der Lehre von der grundsätzlichen Identität der Theologie mit einer theonomen Philosophie (vgl. darüber das »System der Wissenschaften« [Gesammelte Werke, Bd. I.] und »Die religiöse Verwirklichung«), die Vollmacht einer solchen Theologie oder Philosophie, die »bewegenden Grundmächte des gemeinsamen Lebens zu erkennen« (vgl. die kleine Programmschrift »Über die Idee einer Theologie der Kultur« [Gesammelte Werke, Bd. IX.] und ihre Ausführung in den Kairos-Bänden) die Überwindung des Historismus durch das Verständnis der Geschichte von Christus aus als »Mitte der Geschichte« (vgl. diese Formel in dem Aufsatz »Christologie und Geschichte« [Gesammelte Werke, Bd. VI.]), die Bedeutung Feuerbachs für die Theologie (vgl. die Formel vom »konstanten Ideologieverdacht der Religion gegen sich selbst«), der Protest gegen die Benutzung des Glaubens zur »Erhebung von geschichtlichen Tatbeständen« und die daraus sich ergebende Freiheit zu radikaler historischer Kritik, die Charakterisierung der Barthschen Geschichtstranszendenz als indirekter Unterstützung der Dämonien der Zeit (S. 119 bei Dir, an vielen Stellen bei uns) und endlich, was mich gleichfalls überraschte, die Behauptung, daß der Rechtfertigungsgedanke auch auf das Denken anzuwenden sei, wogegen Du bisher immer protestiert hast. Und wenn Du dann gegen ein »geschichtsüberlegenes Eigenwesen der Kirche« Stellung nimmst, also unsere Auffassung über Protestantismus und Profanität bejahst, wenn Du die Theologie davor bewahren willst, »den Menschen eine überkommene theologische Begrifflichkeit wie einen Sack über den Kopf zu werfen«, also eine unermüdlich von allen Religiösen Sozialisten an die Kirche gestellte Forderung wiederholst, dann weiß ich . schlechterdings nicht, wie Du Dich zu Gogarten statt zu uns stellen kannst. Ich kann das nur als Folge der furchtbaren Verwirrung aller Fronten im gegenwärtigen geistigen Kampf erklären. Aber zur Entwirrung viel beizutragen, hättest Du die geistigen Mittel gehabt. Und daß Du es durch Dein Schweigen über Dein wirkliches Verhältnis zur Arbeit des Religiösen Sozialismus nicht getan hast, das ist es, was ich Dir um der geistigen Lage willen zum Vorwurf mache. Ich bin selbst überrascht und erschüttert, wenn im diesen Nachweis überblicke. Nicht so sehr wegen des Maßes Deiner Abhängigkeit von der religiössozialistischen Gedankenarbeit – obgleich sie sehr viel größer ist, als ich erwartet hatte –, sondern wegen der realen Übereinstimmung im Grundprinzip und in fast allen Einzelheiten; und ich frage Dich: Wie kannst Du schreiben: »Es ist die Macht der gegenwärtigen Stunde in Volk und Staat, daß wir nun alle miteinander ins echte, ursprüngliche Fragen hineingerissen worden sind«, wenn alle echten und ursprünglichen Fragen, die Du stellst, in den Jahren vorher von denen, die Du Deine schärfsten Gegner nennst, gestellt und von ihnen so beantwortet sind, daß Du ihre Antworten zur Grundlage Deiner eignen machen konntest? Die Älteren wissen noch von diesen Dingen und schütteln den Kopf. Wie kannst Du es aber vor den Jüngeren, die von allem dem nichts mehr wissen, verantworten, daß Du ihnen ein Bild von der Entwicklung gibst, das ihnen jeden Zugang zum Verständnis der wirklichen Entwicklung von vornherein verbaut?


2. Doch Du wirst erwidern, daß das Entscheidende nicht die Kategorien, sondern die konkrete Anwendung ist, und daß die Verschiedenheit der Anwendungen es rechtfertige, wenn Du den Umfang unserer gemeinsamen Grundlagen verschweigst. Ich kann diese Verteidigung nicht anerkennen; anstatt Dich von dem ersten Vorwurf zu entlasten, belastet sie Dich mit dem zweiten, daß Du die benutzten Kategorien teils entleerst, teils umbiegst, um sie für Deinen Zweck dienstbar zu machen, und dadurch die Kairos-Lehre bei Deinen theologischen Gegnern um den Kredit bringst, den sie in weiten theologischen Kreisen hatte. Und das ist der tiefere Grund, warum ich so nachdrücklich und ausführlich auf Dein Doppelverhältnis zur Kairos-Lehre eingehe.

Vielleicht erinnerst Du Dich an unsere Unterscheidung von sakramentaler und prophetischer Haltung. Es ist die Unterscheidung zwischen der Heiligsprechung eines in Raum und Zeit Gegebenen und dem Heiligen, das im Sinne der Reichsgottesverkündigung Jesu »nahe herbeigekommen ist«, also zugleim verheißen und gefordert ist. Dieses eschatOlogische Moment gehört unabtrennbar zur Kairos-Lehre, im Urchristentum wie im Religiösen Sozialismus. Es verbindet uns mit Barth, insofern wir mit ihm die greifbare Gegenwart des Göttlichen in einem endlichen Sein oder Geschehen bestreiten; es trennt uns von Barth, weil das Eschatologische bei ihm supra-naturalen, bei uns paradoxen Charakter hat. Wir stellen das Transzendente nicht in einen undialektischen Gegensatz zur Geschichte, sondern glauben, daß es als echte Transzendenz nur verstanden werden kann, wenn es als das verstanden wird, was je und je in die Geschichte hereinbricht, sie erschüttert und wendet. In dieser Auffassung stehen Du und wir zusammen. Die Theologie des Kairos steht genau in der Mitte zwischen der Theologie des jungen nationalen Luthertums und der dialektischen Theologie. Sie betrachtet die zweite als eine Abweichung ins Abstrakt-Transzendente, die erste als eine Abweichung ins Dämonisch-Sakramentale. Gegen beide vertritt sie die prophetisch-urchristliche Paradoxie, daß das Reich Gottes in der Geschichte kommt und doch über der Geschichte bleibt. Es ist klar, daß eine solche dialektische Haltung weder geeignet war, noch geeignet ist für die undialektischen Notwendigkeiten des kirchenpolitischen Kampfes. Aber ich kann die Hoffnung nicht aufgeben, daß sich in beiden Lagern Theologen und Nichttheologen finden, die in der unverzerrten Kairos-Idee einen Ausweg aus den Sackgassen finden werden, in die auf die Dauer Du wie Barth Theologie und Kirche hineinführen müssen. Solange freilich der Kampf tobt, stehen wir auf derjenigen Seite, die das Eschatologische gegenüber dem Angriff eines dämonisierten Sakramentalismus verteidigt. Wenn auch ein hoher Preis an supranaturaler Verengung und orthodoxer Verhärtung dafür gezahlt werden muß, es ist besser so als die Preisgabe des Eschaton an ein absolut gesetztes Endliches.

Nach diesen Bemerkungen kann ich meine Kritik an Deinem Buche in den Satz zusammenfassen: Du verkehrst die prophetisch-eschatologisch gedachte Kairos-Lehre in priesterlich-sakramentale Weihe eines gegenwärtigen Geschehens. Das kann an allen Punkten gezeigt werden, in denen Du der Kairos-Lehre und den aus ihr folgenden Gedanken des Religiösen Sozialismus zustimmst.

Du hast Dich in Deinem Buche auf den Boden der religiös-sozialistischen Deutung des bürgerlichen Zeitalters gestellt. Aber mit dem entscheidenden Unterschied, daß wir die Gegenwart als ein Ringen um das Kommende verstanden haben, in dem es für die Theonomie mehr Niederlagen als Siege gab und in dem ein gläubiger Realismus uns davor bewahrte, romantisierend in irgend einem Ereignis die Erfüllung zu sehen. Unsere ganze Darstellung ist an diesem Kanon orientiert. Du richtest Dich zuerst nach ihm, verlässest ihn dann aber zuerst für das Jahr 1918, dann für das Jahr 1933. Im ersten Falle im Sinne einer ungebrochenen Negativität, im zweiten Falle im Sinne einer ungebrochenen Positivität. Du erhebst damit absolute Wertungen, wie sie in der politischen Propaganda unentbehrlich sein mögen, zu theologischer Gültigkeit. Da das aber unmöglich ist, weil kein Endliches unter einem unbedingten Ja oder Nein steht, so verleugnest Du in Deiner Gegenwartsdeutung tatsächlich die theologische Ebene zugunsten der propagandistischen. Das Zeitalter der »Verwirrung und Verführung«, »Abgrund des Volkes und Geschichtsendes«, ein »zu Tode erkranktes Volk und Staat«, eine »zu Tode erkrankte Nation«, »Not- und Kampfeszeit«, »furchtbare Krise des Geschichtszeitalters, die vielleicht alles verschlingen würde«, »Anerkennung der Lage der Zersetzungszeit«, »Todeskrise unseres Volks«, »Säkularismus, Unglaube und Aberglaube«, »entartete öffentliche Ordnung«, »Fluch der Geschichtskrise« – es ist, was Fichte »Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit« nannte. Ein solches Zeitalter aber gibt es nicht. Und kein Zeitalter hat das religiöse und theologische Recht, ein anderes so zu kennzeichnen. »Richtet nicht, auf daß Ihr nicht gerichtet werdet«, gilt auch für Zeitalter und Völker. Ein Urteil, wie Du es gibst, ist nur möglich auf dem Boden der Selbstgewißheit, daß man selbst im Zeitalter der vollendeten Begnadetheit lebt; denn nur in ihm hat man die Erkenntnismöglimkeit für vollendete Sündhaftigkeit. Und eben dieses Gefühl kommt in jedem Deiner Worte zum Ausdruck. Am deutlichsten, wo Du dem gegenwärtigen Geschehen Heiligkeitsqualität zusprichst. »Der neue Wille … ist als ein heiliger Sturm über uns gekommen und hat uns ergriffen.« Unsere jüngste Geschichte hat uns in die »segnende Macht dunklen Verhängnisses getaucht«. »Hier ist das Werk des Allmächtigen Herrn zu spüren, dem wir wesentlich Werkzeuge zu sein haben.« »Der heilige Frühling der Nation«, »von diesem Gott gewirkten Aufbruch und Umbruch«. Am schärfsten ist die theologische Weihe des Gegenwärtigen ausgesprochen in dem Abschnitt: »Die gegenwärtige Stunde der Theologie.« Hier müßte ich fast jeden Satz zitieren. Protestantische Theologie ist für Dich nur möglich »im ganzen inneren Sich-Aufschließen für das Große und Neue, das mit der nationalsozialistischen Bewegung durchgebrochen ist. Ihre Weltanschauung soll der tragende, natürlich geschichtliche Lebensgrund für deutsche Menschen evangelischen Glaubens sein«. Und endlich von Dir selbst gesperrt: »… die Befreiung unseres Volkes, der Aufbruch des neuen Geschichtsalters (ist) auch Befreiung und Aufbruch des evangelischen Christentums.« Damit hast Du das Jahr »1933« dem Jahre »33« so angenähert, daß es für Dich heilsgeschichtliche Bedeutung gewonnen hat.

Diese absoluten Wertungen, die negativen wie die positiven, stehen in klarem Widerspruch zur Kairos-Idee und sind von der Theologie des Religiösen Sozialismus niemals angewandt worden. Wir haben die unmittelbar vorausgegangene sogenannte wilhelminische Epoche niemals als Zeitalter vollendeter Sündhaftigkeit bezeichnet, obgleich wir politisch-propagandistisch allen Anlaß dazu gehabt hätten, da wir sie für den verlorenen Krieg und als seine Folgen bis zur Gegenwart verantwortlich gemacht haben. Aber daraus ein theologisches, also absolutes Werturteil zu machen, wäre uns nicht in den Sinn gekommen. Wir haben niemals Zeitalter sündhaft, sondern wir haben Mächte dämonisch genannt. Und was wichtiger ist: Wir haben das Dämonische [Vgl. »Das Dämonische« in Band VI der Gesammelten Werke] dialektisch verstanden: Es ist nie nur zerstörerisch, sondern immer auch schöpferisch und tragend. Hättest Du diese Dialektik beachtet, so hättest Du den Einwand, den Du Dir selbst machst, ernster genommen, als Du es tust: Du fragst, ob das gegenwärtige Geschehen nicht doch eine verhüllte Form der Rettung des kapitalistischen Systems sei. Du antwortest darauf unter Verzicht auf jede Analyse der wirklichen Vorgänge mit dem Hinweis auf die paradoxe Einheit von Ursprünglichkeit und Reflexion in der gegenwärtigen Bewegung. Das ist aber in keiner Weise eine Antwort auf die gestellte Frage. Statt dieses Ausweichens hättest Du weiter fragen sollen, ob überhaupt eine politische Bewegung in einem einzelnen Land, und mag sie sich noch so machtvoll durchsetzen, imstande ist, im ersten Anlauf eine Gesellschaftsstruktur, in die sie verflochten ist und von der sie lebt, zu beseitigen. Freilich wenn man Personen, Gruppen, Richtungen dämonisch nennt, und zwar ganz undialektisch im Sinne von verwerflich, dann hat man es leicht, nach ihrer Beseitigung den Sieg über »zusammengeballte Dämonien« triumphierend festzustellen. Aber damit zeigt man nur, daß man von der wahren Tiefe und Macht des Dämonischen nichts verstanden hat. Und das werfe ich Dir allerdings vor und stelle zugleich fest, daß wir im Wissen um die dämonische Dialektik die Heiligsprechung auch des uns wichtigsten und wertvollsten Geschehens vermieden haben. Kairos war es für uns, weil die Dämonie des Kapitalismus enthüllt war, weil der Widerstand gegen ihn sich aus der Weltkatastrophe voller Verheißungen und Forderungen erhob. Mehr haben wir nicht gesagt. Mehr kann und darf aus dem Kairos-Gedanken nicht gefolgert werden. Aus Verheißung und Forderung können und dürfen wir nicht heraus. Das ist der gläubige Realismus, der zur Theologie des Kairos gehört. Es ist kein Zufall, daß Du diese Kategorie des religiös-sozialistischen Denkens fast als einzige nicht verwendet hast. Mit Recht von Dir aus: Denn anstelle des gläubigen Realismus steht bei Dir ein bruchloser Enthusiasmus, der Dir den kritischen Blick und das kritische Wort raubt, die wir von Dir als protestantischem Theologen und Künder der gegenwärtigen geistigen Lage erwarten mußten.

3. Laß mich das jetzt an je zwei Beispielen aus Theologie und Philosophie zeigen. Als wir uns der sozialistischen Bewegung anschlossen. war uns sofort klar, daß wir an einem entscheidenden Punkt als unnachgiebige Kritiker und Umgestalter auftreten mußten. Jeder prophetisch-eschatologischen Bewegung haftet die Gefahr des Utopismus an. Utopismus aber ist Absolutsetzung einer endlichen Möglichkeit, wenn auch einer solchen, die in der Erwartung liegt. Wir mußten dem entgegentreten; aber wir durften und wollten nicht die Wucht der Forderung und die Leidenschaft der Erwartung brechen. In dieser Not – ich erinnere mich genau der Tage – wurde die Kairos-Idee gefunden. Sie ist, was vielleicht mancher nicht weiß, im Ringen mit dem Problem der Utopie gefunden worden. Damit war eine Position gegeben, von der aus wir die Möglichkeit hatten, die Bedeutung des geschichtlichen Augenblicks für die Gestaltung der Zukunft zu würdigen, ohne doch Utopisten zu werden. Denn am Ende jedes utopischen Enthusiasmus steht Enttäuschung und Verzweiflung. Und ich meine, es wäre Deine Aufgabe als Theologe in der nun siegreichen Bewegung gewesen, die gleiche Haltung, die wir dem utopischen Enthusiasmus gegenüber einnahmen, dem ideologischen Enthusiasmus gegenüber einzunehmen, der die Gefahr jeder siegreichen Macht ist. Hier hätte die wahre theologische Aufgabe gelegen. Dein Buch zeigt mir, daß Du sie nicht gesehen und nicht erfüllt hast. Die Denkmittel der Theologie des Kairos hätten Dir die Möglichkeit dazu gegeben. Du hast sie aber nur formal übernommen, und da, wo Du sie für Deine besondere Lage hättest anwenden müssen, hast Du sie umgebogen. Ein ungebrochener Sakramentalismus des Gegebenen ist die Folge. Statt den ideologischen Enthusiasten theologisch zu brechen und ihn in einen gläubigen Realismus zu wandeln, verstärkst Du ihn und machst Dich dadurch mitverantwortlich für die Verzweiflungskrise, die bei jedem einzelnen angeblichen oder wirklichen Mißlingen ausbrechen muß. Du gibst zu, daß solch Mißlingen im Bereich der Möglichkeit liegt. Du bist nicht berauscht genug, um diese Möglichkeiten nicht zu sehen, aber Du bist auch nicht nüchtern genug, um das theologische Wort zu finden, das die Berauschten nüchtern macht, ohne ihnen den Mut und das Wagnis zu nehmen.

Ein weiteres Beispiel für den Unterschied unserer theologischen Haltung! Du sprichst von dem »Schmutz des ökonomischen Materialismus«. Ich sehe daraus zweierlei, erstens in der Wahl des Bildes das komplexhafte Unterdrücken einer Sache, mit der Du innerlich nicht fertig geworden bist, zweitens die einfache Unkenntnis der Tatsache, daß ökonomischer Materialismus eine Forschungsmethode ist, die entstanden ist im Kampf mit dem metaphysischen Materialismus Feuerbachs und im Zusammenhang mit einem hochfliegenden, zum Märtyrertum bereiten ethischen Idealismus. Im übrigen ist diese Methode in alle historischen Wissenschaften übergegangen und kann in keiner tiefer dringenden Untersuchung entbehrt werden. Dennoch hast Du insofern ein Recht zur Kritik, als am Ende des vorigen Jahrhunderts eine Welle von metaphysischem Materialismus sich aus dem Bürgertum in die Arbeiterbewegung ergossen hatte und der Religiöse Sozialismus infolgedessen einer antireligiösen Front gegenüber stand. Wieder war es unsere Aufgabe, mit scharfer Kritik dagegen aufzutreten, ohne in das von Dir gerügte Pharisäertum »kirchlicher« Theologen zu verfallen. Aus der Not dieser Lage ist der Gedanke der »gläubigen Profanität« und der »latenten Kirche« geboren. Für Dich gab es keinen Kampf gegen metaphysischen Materialismus oder Religionsfeindlichkeit. Das Bekenntnis zum positiven Christentum gehört zu Deinem politischen Programm. Aber hättest Du nun nicht als Theologe die Aufgabe gehabt, das mit jedem politischen Bekenntnis zur Religion verbundene Verhängnis zu enthüllen und unter eine gleich scharfe Kritik zu stellen, wie wir den Materialismus? Und hättest Du nicht zu diesem Zweck aus dem »Schmutz des ökonomischen Materialismus« das Gold der Ideologie-Lehre herausholen müssen? Du hättest sie freilich auch bei Luther finden können, der gegen den selbstgemachten Gott kräftig genug zu Felde gezogen ist; aber das kann als Sache der persönlichen Frömmigkeit abgetan werden. Nicht so die Ideologie-Lehre bei Feuerbach, der sie auf den Menschen in seiner natürlichen Verfassung, oder bei dem jungen Marx, der sie auf die Klassengesellschaft, oder bei Freud, der sie auf die Einzelpsyche, oder bei Jung, der sie auf die Massenpsyche anwendet. Hier überall findet die uralte Forderung des γνϖϑι σαυτόν eine methodische Erfüllung von unausweichlicher Schärfe. Es wäre Deine theologische Pflicht gewesen, diese Denkmittel zu benutzen, und mit ihrer Hilfe den ideologischen Mißbrauch aufzudecken, der von Reaktion und Kleinbürgertum in ihrem antiproletarischen Klassenkampf mit dem religiösen Bekenntnis getrieben worden ist. Es ist doch so, daß hinter dem theologischen Theismus sich oft ein – nun wirklich schmutziger – praktischer Materialismus verhüllt, während hinter dem materialistischen Atheismus ein heroischer Idealismus stehen kann. Ich kann mir kaum eine wichtigere, konkret theologische Aufgabe in der gegenwärtigen Stunde denken, als das herauszuarbeiten. Du aber nimmst jede Ideologie, die negative wie die positive, bei dem, was sie sagt, statt bei dem, was sie ist. Auch hier kritisch ungebrochener Enthusiasmus gegen gläubigen Realismus, priesterliche Weihe statt prophetischer Enthüllung.


4. Du stellst auch Forderungen an die neue Philosophie, die im Zusammenhang mit der Theologie des Kairos stehen. Ich muß Dir auch hier folgen und zeigen, wie Du die ursprünglichen Intentionen der neuen Philosophie infolge Deiner sakramentalen Grundhaltung umbiegst. Als erstes Beispiel erwähne ich Deine Kritik an Heidegger. In der Tat, Heidegger muß vom Standpunkt existentialphilosophischen Denkens aus kritisiert werden. Er verdeckt mit der abstrakten Verwendung des Begriffs Geschichtlichkeit die konkrete Geschichtsgebundenheit seiner Begriffe. Nicht aber kann er als Existentialphilosoph um seiner Negativität willen angegriffen werden. Denn das ist ein Angriff auf die Existentialphilosophie selbst, zu der Du Dich ja formal bekennst. Sie ist Existentialphilosophie, weil sie im Gegensatz zum Idealismus die Existenz außer halb der Idee voraussetzt und zum Thema macht. Das, was die Existenz zur Existenz macht, ist das, wodurch sie nicht in der Idee, im Wesen steht. So sah es der zweite Schelling, als er im Anschluß an seine Lehre vom Bösen den Gegensatz beider Philosophen entdeckte; so Kierkegaard, als er das menschliche Grundexistential in der Verzweiflung fand; so Marx, als er gegen Feuerbachs Lehre vom Menschen die Entmenschlichung in der proletarischen Existenz zum Ausgangspunkt nahm; so ]aspers, wenn er das Scheitern zur letzten existentiellen Möglichkeit des Menschen macht; so Heidegger, wenn er den radikal Fragenden vor den Abgrund des Nichts stellt. So versuchte ich, existential geschichtliche Kategorien aus einer Analyse der Bedrohtheit unserer geschichtlichen Existenz zu erheben. Diese existentielle Bedrohtheit ist nicht dadurch aufgehoben, daß eine geschichtliche Gruppe sich machtvoll konzentriert hat. Wäre es darum nicht die Aufgabe des Existentialphilosophen in der gegenwärtigen Lage, die existentielle Bedrohtheit jeder geschichtlichen Wirklichkeit, auch wenn sie Verheißungen in sich birgt, allgemein und in konkreter Anwendung herauszuarbeiten? In Deiner Kritik an Heidegger, sowie in Deiner eigenen philosophischen Haltung zeigst Du Dich als enthusiastischer Idealist, nicht als Existentialphilosoph. Du weihst, statt zu enthüllen.


Von da aus habe ich Deine Forderung einer neuen Sokratik in Frage zu stellen. Historisch spricht alles gegen sie: Sokrates am Ende einer gebundenen Periode der Geschichte, durch seine Entdeckung des Begriffs Träger der ihm folgenden rationalen und autonomen Entwicklung, Dialektiker im echten Sinne dessen, der Gespräche führt, nicht über diese oder jene Durchklärung, sondern über die Begründung menschlicher und politischer Existenz im Denken. Demgegenüber unsere Lage: Am Ende einer rationalen und autonomen Entwicklung, im Übergang zu einer neuen gebundenen Periode, unter den Notwendigkeiten spätkapitalistischer Massenorganisation, die ein freies Gespräch über die Grundlagen immer mehr unmöglich macht – wie es ja auch von Dir ausdrücklich ausgeschlossen wird. Bleibt allein übrig, was Kierkegaard im Unterschied von den Systematikern an Sokrates als existentiell empfand, ein Fragen, bei dem es um den Fragenden selbst geht. Das aber ist weder das ausschließliche noch das hervorragendste Merkmal der Sokratik. Du nimmst das Kierkegaardsche Symbol, nicht den wirklichen Sokrates. Und das hat tiefere Gründe: Du verdeckst damit, daß Du in Wirklichkeit auf Seiten Nietzsches und seiner Bekämpfung des Sokrates stehst. Was Du über Nietzsche sagst, enthält ein solches Maß von historischer Ungerechtigkeit, daß es nur aus Deinem entschlossenen Willen verstanden werden kann, die Weihe des gegenwärtigen Geschehens nicht durch Erinnerungen an seine Väter stören zu lassen. Denn nichts hätte Dich mehr darin gestört als die kaum zu überschätzende Bedeutung, die Nietzsche für die Entstehung des Fühlens und Denkens der jüngeren Generation gehabt hat und für die neue politische Dogmenbildung noch immer hat. Und zwar gerade durch seinen Protest gegen die Sokratik auf allen Gebieten des Geistigen und Politischen. Es ist ebenso leicht, zu zeigen, daß die meisten von Dir verteidigten Ideen bei Nietzsche im Keim oder entwikkelt vorhanden sind, wie zu zeigen, daß jede dieser Ideen ausdrücklich antisokratisch ist. Ich schreibe das nicht, um der verletzten historischen Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen, sondern ich schreibe es, um Dir noch einmal zu zeigen, wie sehr Du um Deiner enthusiastisch-weihenden Haltung willen die erste, nämlich kritische Pflicht des Philosophen verleugnest. Sonst hättest Du Dich dem ungebrochenen Strom des Vitalismus, Irrationalismus, Voluntarismus ebenso entgegensetzt, wie wir versucht haben, einem entleerten Rationalismus, Intellektualismus, Mechanismus entgegenzutreten. Wir hatten die Bedeutung des Vitalen, des Eros und des Willens mit solchem Nachdruck herausgearbeitet, daß wir uns immer wieder den Vorwurf des Faschismus zugezogen haben. Im sehe nicht, daß Du die entsprechende umgekehrte Aufgabe von der Philosophie gefordert oder selbst in Angriff genommen hättest.

Damit komme ich auf Deine Lehre von Wahrheit, Nomos und Logos. Es könnte scheinen, als wäre sie eine – sehr geistreiche – Weiterentwicklung unserer Lehre von der dynamischen Wahrheit. Aber das ist nicht der Fall. Du raubst dem Logos die kritische Kraft, die er trotz engster Bindung an den Kairos behalten muß. Das geschieht in drei Schritten. Erstens bindest Du ihn an den Nomos einer geschichtlichen Wirklichkeit; er sei ihr wissenschaftliches Selbstbewußtsein. Zweitens kennst Du allein den Nomos eines Volkes. Drittens ist dieser Nomos veränderlich und abhängig von den Handlungen der politischen Gestalter des Volkes. Auf diese Weise ergibt sich notwendig, daß der Logos abhängig ist von der jeweiligen machttragenden Gruppe in einem Volk. Es ist das wissenschaftlich genormte Selbstbewußtsein über das, was diese Gruppe aus dem Nomos des Volkes zu machen entschlossen ist. Praktisch heißt das, Du gibst denen recht, die in großem Chor mit Nietzsche sagen, daß Wahrheit Ausdruck der tragenden Machtgruppe und ihres Seins ist. Zu allem Sokratischen steht das in unauflöslichem Widerspruch. Aber auch zur Kairos-Lehre, die sim bemühte, über das Sokratische hinauszustoßen. Erstens war das, was Du Nomos nennst und was als Gestaltgesetz der platonischen Idee nahe steht, als Einheit von Einheit und Unerschöpflichkeit verstanden worden. Um des Einheitsmomentes willen ist logische Erkenntnis möglich, um der Unerschöpflichkeit willen kann sie nicht statisch sein. Das Verhältnis beider Elemente ist in jedem Erkenntnisgebiet verschieden, in keinem aber fehlt die Möglichkeit kritischer Kontrolle. Dies das eine, das ich hier nicht weiter ausführen kann. Zweitens haben wir den Logos nicht an das Gestaltgesetz eines Volkes gebunden, sondern an die Gestalt einer historischen Konstellation, in der das Volk einen entscheidenden Platz einnehmen kann, aber Gestalt nur in einem übergreifenden Gestaltzusammenhang hat und Logos nur in ihm finden kann. Wie wichtig diese Einsicht methodisch ist, wird sich weiter unten bei der Behandlung einiger historisch-soziologischer Fragen zeigen. Grundsätzlich ist vor allem zu sagen, daß auf diese Weise die Bindung der Wahrheit an die Macht insoweit beseitigt ist, als jede Macht in der Gesamtkonstellation ihre Grenzen findet. Keine einzelne Gestalt kann den Logos an sich binden, wie kein Volk Gott an sich binden kann. Die erste Einsicht verdanken wir Plato, die zweite Amos. Von beiden mußte der Philosoph und Theologe zeugen, in einer »Geschichtsstunde«, in der der übergreifende kritische Ernst des Wahrheitsgedankens von einer Flut von Gerede gegen Objektivität des Erkennens weggeschwemmt zu werden droht. Drittens haben wir unter Bindung der Wahrheit an eine geschichtliche Wirklichkeit niemals verstanden, daß die Wahrheit nichts als Ausdruck oder Selbstinterpretation dieser geschichtlichen Wirklichkeit sein soll. Wir haben das Verhältnis von »Ausdruck« und »Geltung« oft behandelt und sind zu der Auffassung gekommen, daß es für den Erkennenden nur eine Intention, nämlich die Geltung geben darf; daß aber gerade dann, wenn er am meisten und strengsten auf die Geltung, das An-sich, das Objektive gerichtet ist, sich die Ausdruckskraft seines Denkens einstellt. Und zwar um so mehr, je weniger er sie beabsichtigt und je mehr er doch zugleich gefüllt ist mit der inneren Mächtigkeit seiner Gegenwart. Aber nicht diese innere Mächtigkeit ist das in jedem Erkennen Gemeinte, sondern die Wahrheit. Du hast diese Unterscheidung nicht herausgearbeitet, Du konntest es nicht, da Du selbst mehr um »Ausdruck« als um »Geltung« bemüht warst und darum – das ist die richtende Dialektik des Wahrheitsgedankens – auch den tiefsten Ausdruck dessen, was geschieht, verfehlt hast. Durch die theologischen und philosophischen Beispiele und ihre kritische Behandlung glaube ich genügend bewiesen zu haben, daß Du die Kairos-Lehre, in deren Kategorien Du denkst, bis ins volle Gegenteil ihres Sinnes umgebogen hast. Ich bestreite, daß die Begriffe selbst die Möglichkeit solcher Anwendung darbieten. Du mußtest aus jedem ein entscheidendes Element herausbrechen, um sie in den Dienst Deines theologischen und philosophischen Wollens zu zwingen. Dagegen mußte ich mich wehren und will mich weiter wehren, indem ich auf einzelne Probleme eingehe.




II.

1. Es wird bei Dir theologisch durchaus nicht klar, wie Du eigentlich in strengen Begriffen das Verhältnis von Zeitgeschehen und neuer Theologie auffassest. Ist das Zeitgeschehen eine Offenbarungsquelle neben den biblischen Urkunden? Fast scheint es so bei Dir. Wenn es so wäre, so wären die, die das Zeitgeschehen anders beurteilen als Du, von einer Offenbarungsquelle ausgeschlossen, und zwar auf Grund eines politischen Urteils über politisches Geschehen. Sie könnten in der »Deutsch-Evangelischen» Kirche ebenso wie die Judenchristen nur Glieder minderen Rechtes sein. Und ihrer Theologie würde eine religiöse Erkenntnisquelle fehlen, die denen mit anderem politischen Urteil offen stünde. Ich frage mich, ob solche Auffassung irgendwie durch den Kairos-Gedanken gerechtfertigt werden kann. Ich sehe nicht wie, aber ich gebe zu, daß wir die Probleme, die sich hier ergeben, in den letzten Jahren nicht genügend verfolgt haben und daß darum solche Abwege der Interpretation nicht klar genug ausgeschlossen wurden. Insofern das Zeitgeschehen und sein Niederschlag in Deinem Buch zur Klärung dieser Probleme zwingen, bin ich trotz aller Kritik dankbar dafür. Der Offenbarungsbegriff hat zwei Seiten, die klar geschieden werden müssen. Einmal ist Offenbarung Wirklichkeit nur als »Offenbarungskorrelation«. Offenbarung ist kein Begriff objektivierenden Denkens. Sie ist nur, insofern sie als Offenbarung für jemand sich verwirklicht. Aber, und das ist die andere Seite: Wenn sie ist, d. h. sich korrelativ verwirklicht, ist sie exklusiv. Es kann neben ihr nicht andere Offenbarungen geben, sondern nur andere Situationen, von denen der Mensch in die Offenbarungskorrelation eintritt. Jede neue Lage verändert die Korrelation, verändert aber nicht die Offenbarung. Wenn ich die Sache ohne das Wort Offenbarung ausdrücken wollte, so würde ich von dem Ort reden, von dem her unsere Existenz ihren unbedingten und exklusiven, zugleich tragenden und richtenden Sinn empfängt. Offenbarung ist das, dem ich als letztem Kriterium meines Denkens und Handelns mich unbedingt unterworfen weiß. Der Kairos, die geschichtliche Stunde, kann darum nie von sich aus Offenbarung sein. Sie kann nur den Eintritt einer neuen Offenbarungskorrelation anzeigen. Sie bezeichnet den Augenblick, in dem der Sinn der Offenbarung sich neu erschließt für Erkennen und Handeln, in dem z. B. das letzte Kriterium der Wahrheit einer Zeitkonstellation gegenüber von neuem sichtbar wird, also etwa das Kreuz Christi gegenüber der kapitalistischen oder nationalistischen Dämonie. Wenn Du das Ja zu solchem Sich-neu-Erschließen der Offenbarung »Wagnis« nennst, so stimme ich Dir zu mit der doppelten Voraussetzung, daß Du das Stehen in der Offenbarungskorrelation selbst nicht Wagnis nennst, und daß Du die Relativierung des Gewagten in allen Konsequenzen anerkennst. Offenbarung ist Prius, nicht Gegenstand des Wagnisses. Sie ist das, was mich vor jedem wagenden Handeln je schon ergriffen hat. Sie wäre weder exklusiv noch unbedingt, wenn sie von meinem Wagnis abhinge. »Es auf Christus oder auf Gott wagen« ist eine Formel, die mir immer etwas gotteslästerlich geklungen hat.

Dagegen hat Wagnis im Kairos seinen Platz. Daraus folgt, daß die Offenbarungsgemeinschaft nicht abhängig ist von der Wagnisgemeinschaft. In jeder geschichtlichen Stunde liegt mehr, als daß eine Ausdeutung sie erschöpfen könnte. Darum wird zwar eine theologische Gruppe der anderen gegenüber das tiefere Stehen im Kairos in Anspruch nehmen, aber sie wird die andere nicht von dem gemeinsamen Stehen in der Offenbarungskorrelation ausschließen. Wagnis trägt das Bewußtsein möglichen Scheiterns in sich. Es ist weder unbedingt noch exklusiv. So z. B. in unserem Fall: Für Dich und andere ist Kairos das) was Du als »deutsche Stunde« bezeichnest, für uns war es das, was man als »Stunde des Sozialismus« bezeichnen könnte und wovon nach unserer Auffassung das deutsche Geschehen ein Teil ist, der in Isolierung von dem Ganzen überhaupt nicht verstanden werden kann. Für Barth, der darin, ohne zu wollen, dem Kairos seinen Tribut zahlt, ist es die Befreiungsstunde der Kirche von den in den bürgerlichen Jahrhunderten in sie eingedrungenen säkularen Elementen, was ja nur möglich ist, weil der Säkularismus als geschichtliche Erscheinung in sich selbst brüchig geworden ist. Alle drei Deutungen des Kairos sind Wagnis. Schließst Du nun die beiden, die Du nicht bejahst, von der vollgültigen Arbeit der deutschen evangelischen Theologie aus? Anstatt mit ihnen um die beste und wahrste Deutung zu ringen? Ist deutsche Theologie nicht eine machtvolle geistige Tradition, die sich längst auch jenseits der Grenzen Deutschlands ein vielfaches Bett gegraben hat und die, auch wenn sie wenig vom gegenwärtigen Geschehen berührt ist, an zahlreichen theologischen Problemen in der Vollmacht dieser ihrer Tradition weiterarbeiten kann? Entscheidend ist – und die klare Einsicht darin verdanke ich dem Widerspruch zu Deinem Buch –, daß Offenbarung und Kairos) reines Ergriffensein und Wagnis, Exklusivität des Kriteriums und Relativität der konkreten Entscheidung auf verschiedenen Ebenen liegen. Die Richtung auf das erste macht den Theologen zum Theologen, sie gibt ihm das letzte Kriterium; das Stehen im zweiten gibt ihm die Gegenwartsnähe und Geschichtsmächtigkeit. Du hast das erste um des zweiten willen in Deinem Buche unsichtbar gemacht, und zwar in einem Augenblick, wo infolge des Hervorbrechens der Ursprungsmächte das Kreuz als Kriterium machtvoller herausgehoben werden mußte denn seit Jahrhunderten.

2. Wie Deine theologische, so muß ich auch Deine wissenschaftliche Haltung angreifen. Kannst Du es im Ernst wissenschaftlich verantworten, ein Buch über die gegenwärtige geistige Lage zu schreiben, ohne eine soziologische Analyse der Gruppen und Schichten zu geben, von denen bestimmte geistige Tendenzen getragen werden? Ich habe diese Dinge bei der Besprechung des theologischen Sinnes der Ideologie-Forschung erwähnt, ich komme jetzt auf sie im Zusammenhang meiner wissenschaftlich-historischen Kritik. Eine Reihe Deiner historischen Urteile sind überhaupt nur zu verstehen, weil Du Dich bewußt oder unbewußt gegen die offenkundigsten soziologischen Einsichten gesperrt hast. Und das wieder ist nur zu erklären, weil Soziologie eine der schärfsten Waffen gegen ungebrochenen Enthusiasmus ist. Einige Beispiele! Du rühmst Dich, gegen den »die Breite des öffentlichen Lebens bedeckenden Strom« gestanden zu haben. Ist Dir nie aufgegangen, daß auf den Universitäten, in der sogenannten höheren Gesellschaft, im Mittelstand, im Bauerntum von einem solchen Strom nichts zu bemerken war, wohl aber von dem gerade entgegengesetzten? Nun, wenn Du es nicht bemerkt hast, so kann ich Dir mitteilen, daß wir, die wir in diesen Gruppen hoffnungslos allein standen, auf Schritt und Tritt zu fühlen bekamen, welches der wirkliche Strom war: Die Reaktion aller bürgerlichen Schichten gegen die Beteiligung der Arbeiterschaft am Staatsaufbau! Hättest Du das mit soziologisch geschärftem Blick gesehen, so würdest Du Dich auch nicht rühmen, den Nachkriegsstaat »ausgehöhlt« und ihm so viel wie möglich an Autorität genommen zu haben. Das ist durch das Bürgertum viel wirksamer geschehen. Weiter hättest Du, wenn das so und nicht anders ist, nicht vergessen dürfen, die Weltwirtschaftskrise zu erwähnen und die mit ihr eingetretene akute Bedrohung des Mittelstandes und den von ihr geschaffenen, neuen sozialen Typus des dauernd Arbeitslosen. Du hättest bei der Weltweite dieser Erscheinungen und bei der Ähnlichkeit der Reaktion in vielen Ländern eher das Bild eines Spätherbstes als eines Frühlings benutzen müssen, und zwar ohne Beschränkung auf Deutschland. Wie kann ein Kulturkreis, der seine Klassik hinter sich hat, also die Zeit seiner Blüte, gleich wieder mit dem Frühling anfangen? Diese Einsichten hätten Dein positives Urteil über das gegenwärtige Geschehen nicht zu ändern brauchen. Aber sie hätten ihm das wissenschaftliche Gewicht gegeben, was ihm jetzt fehlt. Man kann ebensowenig vom Enthusiasmus wie vom Glauben aus Tatsachen deduzieren. Wenn Du als theologischer Historiker die geistige Lage der Gegenwart aufzeigen wolltest, so hättest Du allein einen großen Dienst leisten können, wenn Du auf andere soziologische Zusammenhänge aufmerksam gemacht hättest als auf diejenigen, die wir sehen, und wenn Du die gegenwärtige soziologische Struktur in Mitteleuropa als Hintergrund der gegenwärtigen geistigen Lage aufgezeigt hättest. Dann hättest Du den ungeheueren und im geschichtsphilosophischen Sinne bedrohlichen Spannungsreichtum innerhalb der gegenwärtigen politischen Einheit sichtbar machen können und hättest damit eine echte, konkret-existential geschichtliche Analyse gegeben.

Eine solche vom wissenschaftlichen Standpunkt unbedingt geforderte Bemühung hätte Dich weiter davor bewahrt, auslandsfeindliche Seitenhiebe im Stil der »höheren Bierbank« zu machen: Daß die ausländische Philosophie wesentlich »untermenschlich-naturalistische Bestimmungen des letztlich Gültigen« gab, daß der Kulturimperialismus eine »spezifisch welsche« Idee ist, daß das »auktoritäre Regiment welsch« ist, daß das außerdeutsche evangelische Christentum sich ohne das deutsche aus eigener Kraft nicht evangelisch erhalten könnte, ganz zu schweigen von Deinen Urteilen über Rußland, die auch, wenn sie noch so scharf sind, doch wenigstens sachhaltig sein müssen: Das treibt mich zu der Frage: Ist diese Anleitung zu unkontrollierten Urteilen über andere Völker wirklich ein theologischer Dienst am eigenen? Und wenn Du über die »Lüge des Weltgewissens« und das »schuldhafte Schweigen der Kirchen zu Versailles« mit Recht empört bist, so hättest Du zum mindesten die Empörung erwähnen müssen, die das Schweigen der deutschen Kirchen beispielsweise zum Tage des Judenboykotts in Kirchen und Nichtkirchen der ganzen Welt hervorgerufen hat! Gerade weil Du aus philosophischen und theologischen Gründen zu der Rassengesetzgebung stehst, wäre es ethische Pflicht der Stunde und religiöse Verantwortung unserem Volk gegenüber gewesen, wenn Du von der Rassengesetzgebung den Rassenhaß ebenso scharf unterschieden hättest, wie wir von der strukturellen Notwendigkeit des Klassenkampfes im Kapitalismus den Klassenhaß unterschieden und bekämpft haben. Wieder ist es Dein ungebrochener Sakramentalismus, der Dich hindert, zu sehen, was Du hättest sehen müssen und können.

3. Über Volk, Staat und Kirche mit Dir zu reden, erfordert mehr Raum, als die Grenzen dieses Briefes zulassen. So will ich mich auf das beschränken, was im Rahmen meiner Gesamtkritik Deines Buches unentbehrlich ist. Um die Absolutsetzung des nationalen Kairos zu ermöglichen, beschränkst Du den Horos, das schöpferische Dunkel, auf die Begrenztheit menschlicher Existenz durch Volk und Blut. Du nennst sie im Anschluß an den Sprachgebrauch meines letzten Buches: »Die sozialistische Entscheidung« [Gesammelte Werke, Bd. II.] das »Ursprüngliche« und beantwortest meine dort systematisch gestellte Frage, wie Reflexion Ursprünglichkeit schaffen könne, durch die Behauptung, das wäre Paradoxie und Geheimnis. An keiner Stelle Deines Buches scheint mir nun soviel Konstruktion vorzuliegen wie hier. Weder ist bewiesen die Identität von heiligem Horos und Ursprung, noch die Identität von Ursprung und Volk, noch die Identität von Volk und Blutbund. Diese drei Identifizierungen sind aber das Gerüst Deines ganzen Gedankenganges. Ohne sie würde die entscheidende Voraussetzung des ganzen Buches hinfällig werden. »Am Ganzen unseres menschlich geschichtlichen Lebens ist die Grenze mächtig. Überall in ihm offenbart sie sich … ihr Schein des Denkens Licht, ihre Glut des Lebens Blut«, sagst Du in Übereinstimmung mit dem, was wir über den Abgrund, die Unerschöpflichkeit, den sinngebenden Gehalt unserer Existenz gegenüber einer rationalistischen Turmphilosophie gesagt haben. Aber warum beschränkst Du dann den Horos, der am Ganzen unseres geschichtlichen Lebens mächtig sein soll, auf den Ursprung? Ist er nicht auch mächtig in den geschaffenen Formen, in denen der Mensch über den Ursprung hinausschafft, ist er nicht mächtig in dem »Wozu«, durch das im geschichtlichen Leben das »Woher« transzendiert wird? Ist des »Denkens Licht« in Platos oder Laotses Denken nur der sie begrenzende Ursprung? Wie könnte es dann durch Zeiten und Räume leuchten, die nichts mit ihrem Ursprung zu tun haben? Ist das nicht nur zu verstehen, weil die transzendente, sinngebende Mitte gerade darin ihre Kraft zeigt, daß sie durch die Ursprungsgrenzen durchbricht? Und gilt nicht das Gleiche wie vom Denken so auch vom Leben? Die heilige Grenze als »des Lebens Blut« glüht in Franziskus und Buddha nicht mit der Macht ihres Ursprungs, sondern in der Macht eines ausdrücklichen Bruches mit ihrem Ursprung. Zwar weißt Du darum, daß der heilige Horos den natürlich-geschichtlichen verzehren kann, aber nirgends wird bei Dir angedeutet, daß er ihn transzendieren kann, daß er zu einer neuen geschichtlichen aber nicht mehr ursprungsgebundenen Verwirklichung führen kann. So z. B. teilweise die exilische oder uneingeschränkt die urchristliche Gemeinde. Hier ist das »Wozu« und nicht das »Woher« existenzgründend. Daher die Notwendigkeit für Dich, Dich so stark von der neutestamentlichen Haltung zu distanzieren und die religiöseste Periode der Menschengeschichte »Gottentfremdung der Spätkultur« zu nennen. Freilich war es eine Zeit der Entfremdung vom Ursprung. Die Autonomie war vorangegangen und die Krisen der Autonomie. Aber eine neue Theonomie war hereingebrochen, und die Urkunde dieses Einbruches ist das Neue Testament. Wenn Entfremdung von Ursprungsfrömmigkeit Gottentfremdung überhaupt ist, dann gibt es kein gottentfremdeteres Buch als das Neue Testament.

Konkret ist der Ursprung für Dich das Volk. Leider gibst Du keine klare Begriffsbestimmung. Doch wenn man die verschiedenen bei Dir genannten Momente (natürlich, geschichtlich, bluthaft, staatlich) zusammennimmt, so kommt als idealtypisches Bild der europäische Nationalstaat heraus, wie er von der Französischen Revolution im Gegensatz zum feudalen und dynastischen Staat geschaffen ist. Nun kann kein Zweifel sein, daß Nationalstaat in diesem Sinne heute die unmittelbar geschichtsmächtige Wirklichkeit ist. Und ich würde Dir zugeben, daß der Religiöse Sozialismus in seinem Interesse an der sozialen Ordnung der Gesellschaft dem nationalen Staat und den in ihm konzentrierten Ursprungsmächten zu wenig Aufmerksamkeit zugewandt hat (ich selbst erst in meinem letzten Buch). Ich gebe Dir auch weiter zu, daß es Augenblicke in der Geschichte geben kann, in denen das Schicksal eines Volkes nicht nur für es selbst, sondern auch für die Welt einen Kairos, eine religiös zu deutende, überragende geschichtliche Stunde, eine Verheißung und Forderung bedeuten kann. Hätte Dein Buch nur dieses gesagt, so hätte ich mir die folgende Kritik sparen können. Aber es sagt sehr viel mehr und sehr viel anderes. Es sagt z. B., daß Ursprung und Volk identisch sind. Aber wie ist das zu rechtfertigen, außer wenn Volk der Name für jede natürlich-geschichtliche Gruppe überhaupt wird: Also Sippe, Stamm, Blutsgruppe, Rassengruppe, Landschaftsgruppe, Standesgruppe, Sprachgruppe, Staatsgruppe. All diese Gruppen können sich verbinden und sich ausschließen. In ihnen allen sind Ursprungskräfte. Aber Volk mit den von Dir angegebenen Merkmalen ist weder der dynastische Staat noch die Sprachgruppe noch der Stand (z. B. das ursprungsmächtige mittelalterliche Rittertum, das einen Querschnitt durch die Länder der Christenheit darstellte), noch die Rasse usw. Volk in dem von Dir umgrenzten Sinne ist eine einmalige kaum hundertfünfzig Jahre alte Erscheinung. Wenn das aber so ist, so wird ihre metaphysische Absolutsetzung als Ursprungsmacht überhaupt und damit als einzige Verwirklichung des heiligen Horos überaus zweifelhaft. Ja, ich muß Dir gestehen, daß mir von hier aus auch der verlockende Begriff des völkischen Nomos (Gestaltgesetz) und der weniger verlockende des völkischen Logos (begriffenes Gestaltgesetz) zweifelhaft geworden ist. Denn was bedeutet ein Gesetz, das nicht nur wechselnde Erscheinungen begreift, sondern, wie Du vielfach aussprichst, selbst im ständigen Wechsel steht? Wenn geschichtliches Handeln die Nomoi der Völker in jedem Augenblick wandelt, was heißt dann noch: Gemäß dem Gestaltgesetz handeln? Wenn ich es wandle durch mein Tun, so ist es ja nicht mehr Gesetz für mein Tun. Und so ist es doch tatsächlich. Zur Zeit wird durch stärkste Willensanspannung eine neue Gestalt des deutschen Volkes geschaffen, aber was soll es konkret bedeuten, daß ein vorher vorhandenes Gestaltgesetz verwirklicht wird, wo Du gleichzeitig sagst, daß das kommende Gestaltgesetz erst geschaffen wird? Was ist ein Begriff wert, für den es keinerlei konkrete Anwendungsmäglichkeiten gibt? In der feierlichen und rituell-priesterlichen Sprache mögen solche Worte einen Sinn haben, fruchtbare wissenschaftliche Erkenntnis vermitteln sie nicht.

Und nun die dritte Identifizierung, die ganz in die Sphäre des Mystismen führt, die Gleichsetzung von Volk und Blutbund. Du gibst dieser Identifikation das größte Gewicht, indem Du behauptest, daß durch die Idee des Blutbundes dem Sturz der »euramerikanischen Kultur von Klippe zu Klippe« das »Bis hierher und nicht weiter« entgegengerufen wird. Die Idee des Blutbundes hat also geradezu Heilsbedeutung für einen Teil der Menschheit. Umso wichtiger wäre es, klar herauszuarbeiten, um was es sich dabei handelt. Offenbar meinst Du nicht die Rassengesetzgebung, die ja praktisch nur gegen die Juden gerichtet ist und nicht gegen die übrigen Völker des euramerikanischen Kulturkreises. Blutbund muß also etwas Engeres meinen, entweder die spezifische Blutsbeschaffenheit des sogenannten nordischen Menschen, die aber einerseits nichtdeutsche Völker umfaßt, andererseits für große Gruppen des deutschen Volkes nicht zutrifft. So bliebe also nur das deutsche Volk selbst und die Forderung, jede Blutsvermischung über seine Grenzen hinaus zu verhindern und Träger schon vorhandener Blutsmischungen dieser Art im Sinne der Rassengesetzgebung zu entrechten. Derartiges würde die Zerreißung der mehr als tausendjährigen Tradition bedeuten, daß die christlich-abendländische Welt eine einheitliche Völkerfamilie darstellt, eben weil sie von ihren geschichtlichen Anfängen an gemeinsam durch das Christentum geformt ist. Willst gerade Du als Theologe der deutschen Führung zu einem solchen Schritt raten, den sie offenbar selbst nicht in Aussicht genommen hat? Bist gerade Du als Theologe berufen, der sakramentalen Blutsgemeinschaft der Christenheit, die durch das Abendmahl gegeben ist, die natürlich-geschichtliche Blutsgemeinschaft überzuordnen? Und wieder frage ich, wie schon so oft: Wäre es nicht Deine Aufgabe als Theologe gewesen, gerade wenn Du die Ursprungsmacht des Blutes so stark hervorheben wolltest, die Grenze seiner Macht mit Hilfe der Abendmahlssymbolik herauszuarbeiten?

Das Originelle an Deiner Staatslehre ist Dein Begriff des »verborgenen Souverain«. Ich gehe auf ihn ein, weil er auch ins Theologische hineinreicht. Du gebrauchst ihn, um dem Staat den Inhalt zu geben, den er als totaler nötig hat, und zugleich um gegenüber der älteren lutherischen Lehre das Revolutionsrecht zu begründen. Ich beginne mit dem zweiten. Hast Du Dir nie die Frage vorgelegt, die mir so oft begegnet ist, die so viele an der Ehrlichkeit unseres Kirchentums irre gemacht hat und die so nahe liegt: Wie ist es möglich, daß eine Kirche, die sich Jahrhunderte hindurch unter jede, auch die volksverderbendste feudal-dynastische Obrigkeit gebeugt hat und bedingungslosen Gehorsam gerade gegenüber diesen »schlechten Obrigkeiten« gelehrt hat, in dem Augenblick diese Lehre vergaß, wo ein Staat geschaffen wurde, in dem andere als die alten Schichten die Obrigkeit repräsentierten? In dem Augenblick, als bestimmte Gruppen ihre ererbten Privilegien verloren hatten, entwickelte das Luthertum, vertreten durch die jungnationale lutherische Theologie, eine Lehre vom »bedingten Gehorsam«. Wäre hier nicht die Frage nach dem ideologischen Charakter beider Lehren am Platze gewesen? Unter diesem Gesichtspunkt packt mich fast ein Grauen, wenn Du schreibst: »Es mußte … dem damalig bestehenden Staat möglichst viel an Gestaltungsvollmacht entwunden … werden.« Wessen unbewußtes Werkzeug warst Du, als Du das tatest und theologisch rechtfertigtest? Und was für Folgen muß es haben, wenn das dann theologische Lehre wird? Der »verborgene Souverain« ist eine mystische Realität, wenn er eine Realität ist. Niemand kann aus ihm eine konkrete Entscheidung ableiten. Jeder kann behaupten und bis zur Selbstaufopferung sich dafür einsetzen, daß der je gegenwärtige offene Souverain dem verborgenen ungehorsam ist. Weder die altcalvinistische Lehre vom Widerstandsrecht der unteren Obrigkeiten, noch die sozialistische vom Klassencharakter des kapitalistischen Staates gibt ein so uneingeschränktes, so von allen objektiven Normen freies Revolutionsrecht wie diese Lehre. Oder sollte sie nur einmal zur Anwendung kommen und nie wieder? Aber verdient sie dann noch den Namen einer Lehre? Ferner, was bedeutet die Idee des verborgenen Souverain für das staatliche Handeln selbst? Sie gibt ihm die Aufgabe, das natürlich-geschichtliche Volkstum zu bewahren und zu entfalten, eine im nationalen Staat selbstverständliche Forderung; aber es ist schlechterdings nicht einzusehen, wieso die Idee des verborgenen Souverain darüber hinaus Neues bringt. Ich vermute darum, sie hat eine dritte, Dir wohl wichtigste Aufgabe zu erfüllen: Anstelle des Gottesgnadentums einerseits, der Volkssouveränität andererseits soll sie für die Herrschenden eine Bindung und Verantwortlichkeit schaffen. Das ist in der Tat in einem Staate, in dem der Wille eines Menschen einziges Gesetz ist, von größter Bedeutung. Aber wieder frage ich: Ist der verborgene Souverain dazu geeignet? Das Gottesgnadentum gab ein Korrektiv gegen Willkür, sofern der christliche Gottesgedanke bestimmte, entfaltete Züge hatte, an denen das Gewissen des Herrschers sich orientieren und das Volk die Handlungen des Herrschers messen konnte. Und die Souveränität des Volkes stellte sich in meßbarer Form als Mehrheitswille dar. Der verborgene Souverain hat keinerlei solche Bestimmtheit. Er gewinnt sie nach Deiner eigenen Auffassung durch das jeweilige historische Schicksal, vor allem durch das Handeln der Herrschenden, denen er doch Souverain sein soll. Was aber ist ein Souverain, der von denen geschaffen und gewandelt wird, die ihm unterworfen sind? Treibt Dich Dein Wunsch, den autokratischen Konsequenzen der Zerstörung der Demokratie, die Du selber fürchtest, zu entgehen, nicht in einen Mystizismus, aus dem konkret nichts folgt? Wäre hier nicht gerade ein Realismus, der wirkliche antiautokratische Korrektive sucht, richtiger und ehrlicher gewesen als ein Enthusiasmus, der erklärt, die Rückkehr zur Autokratie wäre »unwahrscheinlich«. Was für eine Lehre vom Menschen kann Dich als Theologen zu einer solchen Erwartung veranlassen? Und was hat die Kategorie des »Wahrscheinlichen« in einer grundsätzlichen Staatslehre zu suchen? Du fühlst selbst die Schwäche dieses Auswegs in Deiner Erörterung über Führertum. Du weißt aus der Kirchengeschichte, daß charismatisches Führerturn eine Gabe der geschichtlichen Stunde ist, und zwar, wie Du mit Recht sagst, bei den Führern und bei den Geführten. Du weißt auch, daß das Charismatische nach einsichtigen Gesetzen in das Institutionelle übergehen muß. Wenn das aber so ist, so kann Autokratie auf keine andere Weise verhindert werden als durch Einschaltung von Korrektiven aristokratischen oder demokratischen Charakters. Damit aber ist die neue Staatslehre an dem Punkt angekommen, an den die religiös-sozialistische Staatslehre längst gelangt war, nämlich zu dem Satz, daß Demokratie nicht Konstitutiv, sondern nur Korrektiv im Staatsaufbau sein kann. (Vgl. meinen Aufsatz »Der Staat als Erwartung und Forderung« [Gesammelte Werke, Bd. IX.].) Kann Dein verborgener Souverain leisten, was die konkreten Korrektive der Autokratie in aller höheren Entwicklung der Menschheit geleistet haben und in Zukunft leisten müssen? Hat Hegel so ganz unrecht, wenn er in seiner Geschichtsphilosophie den christlich-germanischen Freiheitsgedanken dem asiatisch-vorchristlichen Prinzip der Despotie entgegenstellt? Und ist nicht in dem demokratischen Ideal neben dem stoisch-epikuräischen das christlich-germanische Element enthalten, die Wertung des einzelnen Menschen im Unterschied von seiner völligen Bedeutungslosigkeit im asiatischen Denken? Wäre z. B. die gesetzlich uneingeschränkte Verfügungsgewalt eines Einzelnen über Leben und Tod jedes Einzelnen aus der christlich-germanischen Tradition zu rechtfertigen? Hättest Du als christlich-deutscher Geschichtsphilosoph nicht die Aufgabe gehabt, auf diese Tradition historisch und systematisch aufmerksam zu machen, anstatt ohne jede kritische Einschränkung eine Haßerklärung gegen alles Demokratische von Dir zu geben? Auch bei Deinen Ausführungen über Gleichheits- und Ungleichheitsgerechtigkeit, denen ich formal zustimmen kann, hast Du vergessen, zu zeigen, was Gerechtigkeit in der Ungleichheit bedeutet. Wäre nicht das ein theologisches Wort »aus der Stunde« gewesen?

Du schilderst mit begeisterter Zustimmung den Totalitätsanspruch des von Dir als ideal gesehenen Staates. (Der wirkliche Staat ist wesentlich zurückhaltender, z. B. in der Wirtschaft. Deine Schilderung trifft nur auf Rußland ganz zu.) Mir ist Deine Zustimmung besonders interessant, weil ich gerade an einem Aufsatz [»Der totale Staat und der Anspruch der Kirchen«, Gesammelte Werke, Bd. X.] arbeite, in dem ich die Entstehung der Idee des totalen Staates in Ost- und Mitteleuropa aus der spätkapitalistischen Krisensituation (geistig, gesellschaftlich und ökonomisch) in Ländern ohne alt-demokratische Durchformung verständlich zu machen suche, nämlich aus der Notwendigkeit der »Reintegration« der in wachsendem Maße desintegrierten Massen. Vor allem ist mir wichtig, daß auch Du meinst, für eine solche totale Durchformung müsse eine Weltanschauung die Grundlage geben; ich sage dafür, weniger intellektualistisch und dem gegenwärtigen Sprachgebrauch angemessener: ein Mythos. Sobald das aber eingesehen ist (und wir scheinen hier von verschiedenen Standorten ähnliche Notwendigkeiten zu sehen), entsteht eine Reihe schwerer Probleme.

Zunächst ein staatspolitisch-dialektisches. Der totale Staat muß getragen werden von Persönlichkeiten, die in »schöpferischer Verantwortlichkeit« entscheiden. Wie kann es zu solchen Persönlichkeiten kommen? Wohl nicht ohne das, was Du selbst »Widerspannung« gegen die verfestigten Formen nennst. Du selbst bekennst von Dir, im Widerstand gegen die staatlichen und geistigen Mächte der letzten Periode stark geworden zu sein. Die Demokratie gab Raum, sicher zu viel Raum, zu solchem Widerstand. Immerhin hat sie nach Dir der Entwicklung einer einmaligen Fülle von Führerpersönlichkeiten Raum gegeben. Wie aber, wenn jeder solcher Raum geistig und machtmäßig besetzt ist? Wie, wenn keinerlei Ausweichmöglichkeit da ist, weder innerlich noch äußerlich? Können Persönlichkeiten überhaupt, können Führerpersönlichkeiten insbesondere entstehen, ohne daß ein Raum da ist, in dem sie durch existentielle Entscheidung zu der Vollmacht heranreifen, für andere zu entscheiden? War nicht die europäische Geschichte von Anfang an so reich und schöpferisch, weil zu allen Zeiten ein genügender Ausweichraum da war? Und diese Frage gilt weiter für das Geistige. Ich vermisse schmerzlich in einem Buch über die gegenwärtige geistige Lage einen Abschnitt über die gegenwärtige Lage des Geistes. Ich gebe zu, daß dem Geist die Existenz seiner Träger als bürgerlich gesicherte Lehrbeamte oder als verhätschelte Literaten sehr schlecht bekommen ist. Die wirklichen Träger des Geistes sind darum seit einem Jahrhundert beiden Existenzformen freiwillig oder unfreiwillig fern geblieben. Ich behaupte im Gegensatz zu manchen Liberalen, daß Unsicherheit, Verfolgung, Heimatlosigkeit, Gefängnis und Todesdrohung dem wirklichen Geist nie haben schaden können und ihm auch jetzt dienen werden. Aber es gibt hier eine Grenze. Um bedroht und verfolgt zu werden, muß der Geist erst einmal da sein; und um da zu sein, muß er einen Raum haben, in dem er durch Nein-sagen zum Ja-sagen kommen kann. Es ist der erste Schritt alles Geistes, nein zu sagen zum unmittelbar Gegebenen. Widerspricht es nicht der Totalitätsidee, wie Du sie schilderst, Raum für die Entwicklung eines existentiellen Nein zu geben? Es hat Staaten gegeben, die dem Geist diesen Raum versagt und ihn in sich zerstört haben. Hat Dich der Ernst dieser Frage nie gestört in Deiner enthusiastischen Schilderung des totalen Staates und in der Forderung rücksichtslosen Zugreifens, das besser sei als überreden? Gibt es nicht zwischen beiden die Kategorie des »Überzeugens« – nicht durch Worte, sondern auch durch das Herstellen symbolkräftiger Wirklichkeiten? Wo bleiben solche Erwägungen bei jemandem, der sich gleichzeitig auf Sokrates beruft?

4. Einen Ausweichraum braucht vor allem die Kirche. Was wäre aus Urchristentum und Protestantismus geworden, wenn sie ihn von Anfang an nicht gehabt hätten und nicht hätten reifen können bis zu den Entscheidungsschlachten gegen die Mächte, die beiden ihren Raum wieder nehmen wollten? Nun überläßt Du der katholischen Kirche diskussionslos einen solchen Raum. Du sprichst ihr geschichtliche Lebensmöglichkeiten zu, die unabhängig sind vom Schicksal des deutschen Volkes, und Du greifst diese Lebensmöglichkeiten nicht an, wenn Du sie wohl auch bedauerst. Der evangelischen Kirche sprichst Du eine solche unabhängige Lebensmöglimkeit ab. Die Todeskrise des Volkes war auch Todeskrise der Kirche. Die »Morgensonne des Volks schießt ihre Strahlen« auch für die Kirche. Nun waren wir darin einig, daß ein totaler Staat mit seinem Anspruch an den ganzen Menschen nur möglich ist in der Kraft einer Weltanschauung, die alle Seiten des Menschlichen ergreift, eines Mythos. Man darf, sagst Du mit Recht, den Nationalsozialismus nicht als eine bloße Bewegung betrachten, der nur ein »Teil des menschlichen Daseins überantwortet« ist. Denn nur religiös gefüllte, nicht rational produzierte Weltanschauung hat solche Kraft. Wenn es sich aber um einen Mythos handelt, so ist die Frage, die Du selbst stellst, allerdings sehr ernst, ob dieser Mythos »der tragende, natürlich geschichtliche Lebensgrund und Schaffensraum ist für deutsche Menschen evangelischen Glaubens und evangelischen Geistes«, ob das neue Bild des deutschen Menschen und das alte Bild des Christenmenschen zusammenstimmen. Ich habe nicht zu untersuchen, ob sie es tun. Ich habe mich, wie in diesem ganzen Brief, nur um das Methodische, um das theologische Prinzip zu bemühen. Und da frage ich nun: Wer hat das zu entscheiden? Eine ernsthafte Entscheidung ist nur eine solche, in der das Nein möglich ist. Ist der Anspruch des totalen Staates berechtigt, so hat sich ihm die protestantische Theologie zu unterwerfen, da ihr ja nach Dir eine eigene geschichtliche Existenz fehlt. Sagt nun der Staat: Nein, sie stimmen nicht zusammen, so hätte sich die Kirche aufzugeben zugunsten des neuen, die Totalität des Staates konstituierenden Mythos. Die Gefahr, daß er offen nein sagt, ist groß. Wie aber, wenn er versteckt, vielleicht unbewußt nein sagt, wenn maßgebende Führer bestimmte Züge aus dem Bilde des Christenmenschen auswischen oder übermalen, die mit dem neuen Bilde des deutschen Menschen nicht übereinstimmen? Warum hast Du diese Möglichkeit, die doch schon vielfach Wirklichkeit geworden ist, nicht zum eigentlichen Problem gemacht? Aber auch die andere Möglichkeit ist da, daß Kirche und Theologie die Übereinstimmung beider Bilder in Frage stellen. Gewährst Du ihnen dann den gleichen Ausweichraum wie der katholischen Kirche? Und wenn Du es tätest, was würde dann aus dem staatlichen Totalitätsanspruch, da doch auch die Kirchen den ganzen Menschen beanspruchen? An dieser Stelle liegen die Probleme, die bei dem überall aufbrechenden Totalitätsanspruch des Staates für Protestantismus und Christentum entscheidend sein werden und an denen Du in Deinem Buch – ja, ich muß es sagen – enthusiastisch vorbeiredest. Oder willst Du eine Lösung andeuten, wenn Du die uneinheitIiche, Deinen Forderungen widerstrebende protestantische Theologie mit folgenden Worten bedrohst: »Muß erst ein Zwingherr kommen und gebietende Lehre über uns alle setzen, so zerbräche in uns das Reformatorische.« Bist Du geneigt, den Zwingherrn zu rufen, wenn die Theologie nein zu der von Dir vorausgesetzten Einheit sagt? Bist Du bereit, das Protestantische dafür zu opfern? Du sprichst hier, wie der Religiöse Sozialismus hätte sprechen müssen, wenn er Religiöser Bolschewismus gewesen wäre. Er sprach nicht so. Aber wenn auch Du nicht so sprechen wolltest, was bedeutet dann dieser Drohsatz, was bedeutet dann Deine ungebrochene Anerkennung des staatlichen Totalitätsanspruchs über das hinaus, was der wirkliche Staat tut? Was bedeutet die Aufopferung eines eigenen geschichtlichen Raumes des deutschen und sogar des Weltprotestantismus?

In Deinen weiteren Ausführungen über die Kirche kann ich eine erfreuliche übereinstimmung zwischen Barth, Dir und mir feststellen. Wir bedauern alle nicht, daß der Staat der Kirche eine Reihe sozialer und kultureller Werke abgenommen hat und daß sie sich nun besser auf ihr eigenes Werk besinnen kann. Aber über Deine positiven Formulierungen waren wir im Berneuchener Kreis schon längst hinaus. Wir gaben der Kirche außer Wortverkündigung und Meditation die Aufgabe, in sich symbolisch-repräsentativ den christlichen Liebesgedanken in sozialen Gestaltungen zu verwirklichen und so für den Staat ein eindrucksvoller Hinweis auf die Grenzen alles erzwingbaren Handelns und auf eine Wirklichkeit höherer Ordnung zu sein. Doch könnten wir uns hierüber vielleicht einigen, wenn Du einen Raum für solch christlich-repräsentatives Handeln im totalen Staat zugestehen würdest. Keinerlei Einigung ist aber möglich mit folgenden Sätzen von Dir: »Allein Führung als heißer Wille …, die Verkündiger und die kirchlichen Helfer und Arbeiter und alle lebendigen Frommen mit allem, was sie an Gut und Arbeit und Gaben haben, in die werdenden Formen und Gestaltungen volkhaft-staatlichen Lebens hinüberzureißen, kann unsere Kirche davor bewahren, jetzt eine tote Kirche zu werden …« Hierzu kann ich nur sagen: Zunächst verwechselst Du die Aufgabe der staatlichen und der kirchlichen Führung. Der Staat wird das Interesse haben, wie jeder seiner Bürger, so auch die kirchlichen Verkünder und Arbeiter seinem Leben aktiv einzuordnen. Aber selbst der Staat kann wenig Interesse an einer Kirche haben, deren Führung ihm das nachmacht – mit unvollkommeneren Mitteln, als er es kann –, anstatt ihre eigene Aufgabe zu erfüllen und ihre Verkünder und Helfer in das kommende Reich Gottes »hereinzureißen«. Ob die Kirche eine lebendige oder tote ist, hängt davon ab, mit welcher Kraft sie das Reich Gottes erwartet und der Stunde gemäß hinweisend zu verwirklichen sucht, von nichts anderem. Das Urteil darüber, welches die Stunde ist und wie sie aussieht, ist Wagnis. Und es kann ein Zeichen höchster Lebendigkeit sein, wenn verschiedene Wagnisse in der gleichen Kirche unternommen werden und miteinander ringen. Wenn Du eine Kirche für tot erklärst, die Dein Wagnis nicht einmütig mitmacht, so beanspruchst Du, daß es mehr ist als ein Wagnis, so stellst Du Dich mit Deinem Wagnis nicht unter das Kreuz, sondern erhebst es zu dem Range einer Offenbarung neben dem Kreuz.

5. In meinen »Grundlinien des Religiösen Sozialismus« [Gesammelte Werke, Bd. II.] habe ich ein »Reservatum« und ein »Obligatum religiosum« unterschieden. Das Reservatum entspricht der Haltung der neutestamentlichen Zeit, die insofern, wie Du mit Recht sagst, einseitig und zeitbedingt war, als sie kein direktes Obligatum für Volk, Staat, Kultur, Gesellschaft fühlen konnte. Das Obligatum ohne Reservatum ist Deine Haltung. Du gibst zwar dem Einzelnen ein Reservatum, das persönliche Verhältnis zu Gott; nicht aber der Kirche, der Du einen selbständigen geschichtlichen Ort bestreitest. Damit aber hebst Du sie auf, machst sie ohnmächtig gegenüber den Weltanschauungen oder Mythen, die den totalen Staat tragen. Und es ist nicht angängig, obwohl es ein alter Ausweg ist, diese Wehrlosigkeit, wie Du es nennst, in eine Kraft umzudeuten. Der Protestantismus ist auch ohnedies wehrlos genug. Gäbe es aber kein Reservatum, auf das er sich vor den geschichtlichen Mächten zurückziehen könnte, so wäre er nicht nur wehrlos, so wäre er längst nicht mehr da. Der Religiöse Sozialismus wußte, als er die Lehre vom Reservatum religiosum annahm, daß er das Religiöse niemals in das Sozialistische auflösen darf, daß die Kirche etwas ist, auch abgesehen von dem Kairos, d. h. von der Verheißung und Forderung, die er in dem weithin sichtbaren Anbruch sozialer und geistiger Neuordnung der Gesellschaft sah. Du hast das Obligatum übernommen, aber das Reservatum preisgegeben – der Vorwurf, der im Grunde das Thema meines ganzen Briefes ist. Du kannst ihm nicht so entgehen, wie Du es in Deinem letzten Brief an mich versuchst und im Buche wiederholt andeutest. Du bestreitest, ein Reservatum gegenüber dem Zeitgeschehen nötig zu haben, weil Dein persönliches Gottesverhältnis Dir den Mut geben könne, mit ungebrochenem Ja in eine geschichtliche Bewegung hineinzugehen. Ich zitiere den entsprechenden Satz Deines Buches: »Wo wir aus dem diese Wahrheit (des Evangeliums) gehorchenden Glauben heraus den Mut haben, mit unserem Ja in ein Menschlich-Geschichtliches hinein zu gehen, da geht die unergründliche Hoheit der Wahrheit mit uns und waltet nun nach ihrer Weise an diesem Menschlich-Geschichtlichen.« Zu dem ganzen Gedankengang kann ich nur sagen, daß nicht nur ich, sondern auch andere von ihm erschreckt und zurückgestoßen waren. Daß jeder von uns sein Wagnis, sich für diese endliche Möglichkeit entschieden zu haben, tragen und vor der Ewigkeit verantworten muß und daß wir dabei, wie in all unserem Tun, auf Gnade angewiesen sind, steht für den Christen fest. Aber daraus das Recht abzuleiten, zu dieser Endlichkeit ein ungebrochenes religiöses und theologisches Ja zu sagen, kann daraus nicht nur nicht abgeleitet werden, sondern steht in vollem Widerspruch zu unserer menschlichen Situation. Wir sollen und müssen hineingehen in Endlichkeiten, in Menschlich-Geschichtliches. Wenn wir aber im Bewußtsein »der unergründlichen Hoheit der Wahrheit«, also als Christen, als Theologen hineingehen, so ist es uns mehr als jedem anderen, der nicht von diesem Bewußtsein erfüllt ist, verwehrt, einem Enthusiasmus zu verfallen, der ja sagt, wo nie anders als ja und nein zugleich gesagt werden darf. Falsch wäre es, wollten wir uns um deswillen überhaupt nicht entscheiden, auch religiös und theologisch im Sinne des Wagnisses entscheiden, um in unserer Theologie dem Gericht zu entgehen, das über alles Menschlich-Geschichtliche ergeht. Weder Du noch wir haben versucht, ihm zu entgehen. Das verbindet uns. Du aber hast ja gesagt, während wir nur im Zusammenhang mit vielfachem nein ja sagen konnten; nicht weil wir unsere Sache für schlechter hielten, sie war ja unser Wagnis, sondern weil wir glaubten, daß vom Ewigen her nie anders über ein Endliches und zu einem Endlichen gesprochen werden darf.

Du hast mir einmal geschrieben, daß ich ein Buch schreiben solle, das Deutschland in seiner gegenwärtigen Lage nützen könnte. Ich wage zu glauben, daß dieser Brief ihm mehr nützen kann als Dein Buch und viele seinesgleichen von geringerem Wert. Denn wenn die Gedanken dieses Briefes tief in das Bewußtsein vieler Deutscher eindringen würden, wenn aus Enthusiasten gläubige Realisten würden, so würde die ungeheure Gefahr eingeschränkt werden, die Du vermehrt hast, daß Enthusiasmus im Kleinen oder Großen umschlägt in Enttäuschung. Und davor das schicksalsbedrängte deutsche Volk zu bewahren, wäre der größte Dienst, der ihm heute geleistet werden könnte und der alle anderen philosophischen und theologischen Dienste einschlösse.

Mit herzlichem Gruß
Dein Paul.





Aus: Theologische Blätter, 13. Jahrgang, Nr. 11, November 1934




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