21 August 2006

Kluge

Kairos und Aura
Spuren Benjamins im Werk Alexander Kluges

Von Christian Schulte





Eine Wahlverwandtschaft

Wer in Alexander Kluges Büchern blättert oder sich auch nur einen Eindruck von seinen Film- und Fernseharbeiten verschafft, wird schnell realisieren, daß er es mit einem Werkgebilde zu tun hat, dessen einzelne Teile keinem Gattungsbegriff zuzuordnen sind. Seine Filme lassen sich weder dem Dokumentar- noch dem Spielfilmgenre zurechnen, und ihre etwas hilflose Kennzeichnung als Essayfilme ist ebenso zutreffend wie unscharf; seine Kulturmagazine widersprechen gänzlich den Konventionen der Gattung Fernsehmagazin; und seine um zahlreiche Abbildungen, statistische Tabellen und Fußnoten angereicherten Prosatexte weichen den Begriff des Epischen so weit auf, daß der Autor selbst die Bezeichnung Roman für die rund 800 Geschichten seiner Chronik der Gefühle für zulässig erklärt.[1]

Betrachtet man im zweiten Schritt die Intensität, mit der die auf verschiedene Medien verteilten Produktionslinien untereinander kommunizieren, so wird spätestens jetzt erkennbar, daß diese sperrige Formenvielfalt die Handschrift eines Autors trägt, der sich um die Ordnungsbegriffe poetologischer Normen nicht kümmert und es dabei in Kauf nimmt, Erwartungen von Lesern und Zuschauern zu enttäuschen. Kluge sagt: »Es geht mir darum, Gefäße, Kisten, Röhren, Ampullen in einem Archiv bereitzustellen, in denen man Erfahrung aufbewahren und prüfen kann.«[2] Diese Erfahrung kann aber nur die eigene sein, und sie auszustellen und öffentlich zirkulieren zu lassen, ist keineswegs auf eine gleichgültige Haltung gegenüber seinen Rezipienten zurückzuführen, im Gegenteil: Kluges Erfahrungsgefäße sollen als Modelle dienen, an deren autonomer Widerständigkeit andere ihren Eigensinn schulen können. Individuation als Bedingung der Individuation. Deshalb arbeitet er konsequent an einem Ausdrucksrepertoire, das seinen Blick auf die Wirklichkeit so authentisch und differenziert wie möglich vermittelt, an Formen, aus denen die »Komplexitätsgrade der Realität« ebenso deutlich hervortreten wie die Motive, die ihrer Darstellung zugrundeliegen.[3]

Es ist diese Radikalität und das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung, die die Autorschaft Alexander Kluges mit der Walter Benjamins verbindet. Beide Autoren markieren mit ihrer Produktion einen Ort, der sich zu den Ressorts und repräsentativen Formen unserer kulturellen Öffentlichkeit gleichermaßen exterritorial verhält.[4] Seinen philosophischen Eigensinn hat Benjamin 1931 in einem Brief an Gershom Scholem auf eine prägnante Formel gebracht, die auch die Haltung Kluges charakterisiert: »ich bin entschlossen, unter allen Umständen meine Sache zu tun, aber nicht unter jedem Umstand ist diese Sache die gleiche. Sie ist vielmehr eine Entsprechende« (GB IV, 24). Kluge würde es einfacher sagen: Ein Autor ist einer, der etwas Selbständiges tut – aus einem einzigen Grund: der »Liebe zur Sache.«[5] Ein Autor ist für Kluge ein Patriot seiner Erfahrungen, der sich seine Handlungsimpulse durch nichts abschwatzen läßt, sondern sie mit derselben Beharrlichkeit verfolgt wie die Protagonistin seines Films Die Patriotin, die auf die Frage, ob sie weiter nach der Geschichte graben wolle, nur lapidar antwortet: »unbedingt«.[6]

Diese Unbedingtheit hat in den Werken beider Autoren ihren geschichtlichen Index in den Defizienzerfahrungen der Moderne, im schockhaften Erlebnis eines ungeheuren Erfahrungsverlusts. So erkennt Benjamin in der Dialektik zwischen der »Sensation des Neuesten, Modernsten« und der »ewigen Wiederkehr alles gleichen« die janusköpfige Traumfigur des kapitalistischen Zeitalters, dessen entfesselte Produktivkräfte und phantasmagorische Inszenierungen der Warenwelt das gesellschaftliche Kollektiv in mythischer Unmündigkeit befangen halten. Die Moderne nannte er eine »Zeit der Hölle« (GS V, 21), deren Tempo die geschichtlichen Bindungen der Menschen zum Verschwinden bringt; eine Diagnose, die von Kluge geteilt und im Zeitalter der beginnenden Digitalisierung im Titel eines seiner Filme auf den Begriff gebracht wird: Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit (1985).

Für Benjamin erreichte diese Dynamisierung ihren vorläufigen Höhepunkt in den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs, aus dem die Überlebenden stumm zurückkehrten: »Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch den Hunger, die sittlichen durch die Machthaber. Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige gebrechliche Menschenkörper« (GS II, 214). Für Benjamin waren der Erste Weltkrieg, die Krisenzeit der Weimarer Republik, das Heraufziehen des Faschismus, das erzwungene Exil, der Beginn des Zweiten Weltkriegs und der Hitler-Stalin-Pakt, der die letzten Hoffnungen des linken Intellektuellen desillusionierte, jene Gefahrenmomente, die ihn veranlaßten, die Unterbrechung der schlechten Geschichte, in der die Menschheit es nicht vermocht hat, Natur und Technik zu versöhnen, philosophisch auf die Tagesordnung zu setzen.

In Kluges Werk sind es beinahe sämtliche Krisenmomente des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, die uns den Wiederholungszwang des geschichtlichen Kontinuums vor Augen führen: die beiden Weltkriege mit Verdun, Auschwitz und Stalingrad, der Kalte Krieg, der Herbst 1977, die Katastrophe von Tschernobyl, der Golfkrieg und schließlich der Anschlag vom 11. September 2001. Diese »Schriften an der Wand, die unser Jahrhundert uns aufgibt«,[7] werden von Kluge buchstäblich eingesammelt, in immer neuen Anläufen kommentierend durchgearbeitet und zu weiträumigen Konstellationen verknüpft, die noch die fernste Vergangenheit (etwa die Erzählung von Gilgamesch oder früheste Stadien der Erdgeschichte) einbeziehen, aber ebenso warnende Ausblicke in eine bedrohliche Zukunft eröffnen. Benjamins Satz »Daß es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe« (GS I, 593) gibt auch der Arbeit Kluges ihr heimliches Motto.

Die eigene Gegenwart in ihren krisenhaften Signaturen wahrzunehmen, so daß diese zum »Kristallsplitter des Totalgeschehens« (GS V, 575) wird, der wie ein Magnet verwandte Krisenmomente aus anderen Zeiten ansaugt, diese Fähigkeit ist beiden Autoren eigen. Bei Kluge wurzelt sie in einer biographischen Urszene, auf die er in seinem Werk immer wieder zurückkommt: es ist der Luftangriff auf seine Heimatstadt Halberstadt, den er kurz vor Kriegsende als Dreizehnjähriger aus nächster Nähe erlebte und den er erst drei Jahrzehnte später literarisch bearbeiten konnte.[8] Die traumatische Wucht dieses Erlebnisses hat sich tief in sein Werk eingeschrieben und gibt den iskontinuierlichen Formen seines Erzählens gewissermaßen den Kammerton vor. Aus diesem Grunde schreibt Kluge »Geschichten ohne Oberbegriff« – und fügt mit deutlichem Bezug auf Benjamin hinzu:
Ich behaupte nicht, daß ich selber ihre Zusammenhänge immer begreife. Es hat den Anschein, daß einige Geschichten nicht die Jetztzeit, sondern die Vergangenheit betreffen. Sie handeln in der Jetztzeit. Einige Geschichten zeigen Verkürzungen. Genau dies ist dann die Geschichte. Die Form des Einschlags einer Sprengbombe ist einprägsam. Sie enthält eine Verkürzung. Ich war dabei, als am 8. April 1945 in 10 Meter Entfernung so etwas einschlug. Die Regenpfütze, die von niemand gebraucht wird, die nicht terrorisiert wird, damit sie sich ›verhält‹, kann sich die klassische Form leisten: Übereinstimmung von Form und Inhalt. Wir Menschen sind dadurch bestimmt, daß Form und Inhalt miteinander Krieg führen. Wenn nämlich der Inhalt eine Momentaufnahme (160 Jahre oder eine Sekunde lang) und die Form das übrige Ganze, die Lücke, ist, das, was die Geschichte gerade jetzt nicht erzählt.[9]







Anmerkungen

[1]
Alexander Kluge, Chronik der Gefühle. 2 Bde. Frankfurt/Main 2000. Vgl. Alexander Kluge, Verdeckte Ermittlung. Ein Gespräch mit Christian Schulte und Rainer Stollmann. Berlin 2001, S. 51; Christian Schulte, Die Lust aufs Unwahrscheinliche. Alexander Kluges »Chronik der Gefühle«. In: Merkur 55 (2001), H. 4, S. 344-350.

[2]
Jochen Rack, Erzählen ist die Darstellung von Differenzen. Alexander Kluge im Gespräch. In: Neue Rundschau 112 (2001), H. 1, S. 74-91, hier S. 75.

[3]
Alexander Kluge, In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. In: Ders., Texte zu Kino, Film, Politik. Hg. von Christian Schulte. Berlin 1999, S. 134.

[4]
»Um zustande zu bringen, was ihm vorschwebte, wählte er die vollkommene Exterritorialität zur manifesten Überlieferung der Philosophie« (Theodor W. Adorno, Über Walter Benjamin. Frankfurt/Main 1990, S. 23).

[5]
Alexander Kluge, Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos. München 1968, S. 51.

[6]
Alexander Kluge, Die Patriotin. Frankfurt/Main 1979, S. 97.

[7]
Astrid Deuber-Mankowsky/Giaco Schiesser, In der Echtzeit der Gefühle. Gespräch mit Alexander Kluge. In: Christian Schulte (Hg.), Die Schrift an der Wand. Alexander Kluge: Rohstoffe und Materialien. Osnabrück 2000, S. 361-369, hier S. 368.

[8]
Alexander Kluge, Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945. In: Ders., Chronik der Gefühle (Anm. 1), Bd. 2, S. 27-82.

[9]
Alexander Kluge, Neue Geschichten. Hefte 1-18. ›Unheimlichkeit der Zeit‹.
Frankfurt/Main 1977 (es 819), S. 9; das folgende Zitat ebd.

[10]